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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 4 (Januarheft 1922)
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Avenarius, Ferdinand: Kunst, Sittlichkeit, Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0247

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Kunst, Sittlichkeit, Gericht

ie Prozesse zur Wahrung von Sittlichkeit gegen wirkliche oder ver-
meintliche Gefährdung durch Kunst oder Scheinkunst sind jetzt so häu°
fig, wie das in den ersten Zeiten nach der Revolution schwerlich jemand
vom neuen Deutschland erwartet hätte. Es geht munter durcheinander da-
bei: Die Sachverständigen begutachten, „wie's trefft", den Richtern scheint
gleichgültig, was sie sagen, hier wird freigesprochen, dort wird „verknackt",
und dementsprechend wird hinterher im Publikum das betreffende Gericht
je nach der Partei bewundert viel und viel gescholten. Ob die Prozesse
so oder so enden — gibt es überhaupt nnter den Denkenden Leute, denenj
bei diesem Wesen wohl wird? Einerseits: wer auch auf der Lußersteü
Linken mag sich wohl dem heimlichen Gefühle entziehen, daß hier denn
doch nicht alles erlaubt sein darf? Anderseits: wer kann bestreiten, daß
solche Prozesse praktisch für das, wogegen sie angestrengt waren, „Reklame
machen" ?

Wir haben es hier mit Dingen zu tun, die sich durch keinerlei Berech-
nung mit festen Größen meistern lassen. Alle Ansätze kennen nur x und y.
Noch dazu .x und y, bei denen der Wert und sogar das Borzeichen
der Wertziffer von Fall zu Fall sich ändert. Denn was manch einew
tierisch macht, kann manchen andern über das alltäglich Menschliche hinaus-
heben — die Wirkungen dssselben Werkes sind so verschieden, wie die
Aufnehmenden verschieden sind. Sogar die Mißverständnisse wirken bald
so, bald anders: es gibt Mißverständnisse, die den Geist austreiben, und
Mißverständnisse, die ihn stärken. Kommen doch sogar Mißverständnisse
vor, die schöpferisch sind!

i,Gibt es denn überhaupt eine unsittliche Kunst?" Wir haben jetzt ihrer
genug, die kurzweg antworten: nein. Worauf wir uns die Gegenfrage erlau-

Ianuarveft t922 (XXXV. 4;
 
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