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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 6 (Märzheft 1922)
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Andreas-Salomé, Lou: Aus Lou Andreas-Salomés "Stunde ohne Gott"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0404

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Aus Lou Andreas.Salomüs ^Stunde ohne Gott"

sGerade wollten wir Lou Salomes im vorigen Iahr (bei Ullstein)
erschienenen Roman „D as tzaus" anzeigen; wollten sagen, daß es uns
mit Spannung erfüllt hatte, dieser geistreichsten unserer Schriftstellerinnen
nach langer Schweigepause wieder zn begegnen, daß dieser Roman von
Eltern, Kindern nnd Enkeln, von sehr besonderen Leuten im Rahmen gar
nicht besonderer tzäuslichkeit, von inneren Erlebnissen ohne viel nach außen
weittragende, aber mit viel nach innen weisender Bedeutung, nns trotz seiner
zuweilen schwerfällig--papierenen Sprache und trotz seines etwas mühsamen
Aufbaus und bedenklichen Ablaufs die ganze Freude an der Klugheit,
dem erlebten und beobachteten Reichtum einer Frau von Geistes Gnaden
wieder einmal wachrief — dies und anderes wollten wir sagen; aber das
Bessere ist des Guten Feind. . . .

Das Bessere: die kürzlich bei Diederichs erschienenen Kindergeschichten
„D i e Stunde ohne Gott". Die moderne psychographische Roman-
und Novellenschriftstellerei hat längst für Kindergeschichten ein Niveau ge-
schaffen. Emil Strauß, Friedrich tzuch, Carl Spitteler und Lou Än-
dreas-Salome selber haben dieses Niveau bestimmt. Sein Kennzeichen
ist, daß das Kind nicht mehr mit den gerührten, freundlichen, ironischen
oder überlegenen Empfindungen der Erwachsenen betrachtet, daß nichts
Fremdes in seinen Kopf und sein Herz hineingedichtet wird, sondern daß es
selber, gestaltet und umrissen, lebt in der Dichtung als tzerrscher in seiner
eigen-echten Kindeswelt, mag immerhin der solches abbildende Erwachsene
sich mit dem lesenden Erwachsenen insgeheim über einiges nebenbei ver-
ständigen. Es ist nun zum andern Male Lou Salome gelungen, solche
Kindergeschichten zu schreiben. Ihre Ursula, die sich da im frühesten
Kindesalter eine über alles Durchschnittliche hinaus reiche und vielfältige
Welt im Elternhaus errichtet hat und sie langsam und unbemüht mit
unserer gemeinplätzlichen und abgenutzten in Beziehung setzt und einmal
vertauschen wird, diese Nrsula ist nicht nur eigen-echtes Kind, nicht nur
mit einem staunenswerten Gemisch von tzingabe und Äberlegenheit ge-
staltet, irgendwie ist sie mehr! irgendwie Symbol — indes nicht etwa
beabsichtigtes, sondern kraft gestalterischer Fähigkeit gewordenes Sym-
bol — eines selbständigen, inmitten aller elterlichen tzege und Pflege
dennoch unerhört freien Menschtums, Persönlichkeit im vollen Sinn des
Wortes, von allen Schicksalen, die diesem Menschenkind nach seiner Art
drohen oder sich verheißen, schon heimlich durchklungen. Wie ist nicht
allein die unberührte, unberührbare Linsamkeit des Menschen schlechthin
in dieser Geschichte gegeben, die äußerlich so stark klingt von Liebe und
Gemeinschaft! wie die herzbestimmte Unverständigkeit menschlicher Ent-
schließungen! wie die Unergründlichkeit der Quellen aller Freuden und
Schmerzen! Und wie lenchtet der Stil dieser Erzählungen von der Klarheit
eines gestaltenden Bewußtseins, das rätselhaft zugleich im Kinde mitlebt,
tausendmal sein Inneres leise entfaltet, und zugleich daneben steht, die
Umwelt schafft, welche das Kind nicht erkennt, und mit einer nie und nim-
mer verletzenden, gütigen Ironie den zweifelnden Leser führt. Denn so
mancher wird freilich zweifeln, ob solche Kinder leben, mit so viel Klugheit
und so viel Naivetät zugleich, so viel Weinen und Lachen und so viel
Selbstzufriedenheit..., aber das Wunder ist geschehen! ein solches Kind lebt
in der „Stunde ohne Gott'ß und wer wollte richten über die Fülle der
Möglichkeiten?

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