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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1922)
DOI Artikel:
Bonus, Arthur: Der erste Brudermord: eine "Ehrenrettung" Kains
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0394

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ohne Rückhalt den Laien vor. Ls bringt — ganz besonders der
von Gunkel bearbeitete erste Teil, doch auch die andern — eine
Fülls von Stoff zur Geschichte und Entwicklung ältester Mythen,
Sagen, Märchen und, was noch wichtiger ist, der ältesten Lite-
ratursormeu sowohl der Volks-, wie der Kunstdichtung. Man verfolgt
mit Spannung, wie die alten wohlbekannten Geschichten ihr Gesicht ver-
ändern, wenn sie erst einmal aus dem Gerede um sie herum auftauchen
und selber zu Atem kommen. Man sieht mit frohem Erstaunen, wie
aus dem einst so glattgestrichenen Boden rabbinischer Frömmigkeit die
alten Helden sich uufzurecken beginnen, rauhe Kriegergestalten, listige
Meisterdiebe, vor keiner Mordtat zurückschreckende Iksurpatoren, aber auch
die schalkhaften Figuren des Volks-Witzes und -Märchens, der zu allerlei
Streichen aufgelegte starke Hans Simson oder der Hirtenbub, der den
Riesen totschlägt und die Königstochter endlich doch kriegt. Und wiederum
die von älrzeithauch umschnobene Mythenfigur des kämpfenden Gottes
und die Zukunft witternden und schaffenden Riesengestalten der großen
Religionsstister und Reformatoren von Mose bis Hesekiel.

Die Wissenschaft, die diese Besreiung und Umwertung herausarbeitete,
hat sich selbst damit das Zeugnis ausgestellt, noch nicht lebenfeindlichem,
verknöchertem oder nur nützlichem Alexandrismus verfallen zu sein, son-
dern im Dienst tiefster Lebensbewegung zu stehen. Denn hieran scheidet
es sich, ob eine Wissenschaft Zeichen endgültigen Abstiegs in die breite
Endzivilisation ist oder ein Mittel der Lebensbewegung wie andere, das
also ebensowohl der Kultur wie der Zivilisation dienen kann. Es ist
nicht so, daß eine untüchtige Wissenschaft Iugend und Kultur bedeute, eine
tüchtige Greisenhaftigkeit und Zivilisation. Sondern es 'kommt auf das
Leben und den Willen an, welche die Fragen stellen, und auf Blick und
Verständnis des Wissenschaftlers, der sie zu beantworten unternimmt.
Es ist aber Kulturgefühl und nicht bloßes Aufklärungsbedürfnis, was
uns die Religion in Freilicht sehen und empsinden lassen will, statt in
der eingesperrten Luft schriftgelehrten Kirchentums.

Diese ganze Arbeit ist schou alt, aber in der Offentlichkeit noch iminer
wenig bekannt. Das Werk, vou dem wir sprechen, ist sehr geeignet, in
sie einzuführen. Ich suche als eiu Beispiel die „Rettung" Kains dar-
zustellen, wie sie auf Grund der in diesem Werk gegebenen Audeutungen
sich etwa führen ließe.

Einem jeden Leser oder Hürer der Kainsage fällt ohne weiteres ihr
merkwürdiger Schluß aus. Kain klagt, üaß Gott ihn aus seinem Ange-
sicht verbanne und ächte, und Gott, der ihn eben noch verflucht hat, ver-
spricht wiederum, ihn vor der einfachen Blutrache dadurch zu schützen, daß
auf seine Ermordung siebenfache Blutrache stehen solle. Wie ist das zu
erklären?

Um zunächst noch innerhalb der Sage zu bleiben, wie sie uns jetzt vor-
liegt, so ist dieser Schluß mit Kains Klage über seine Verstoßung von
Gottes Angesicht mit dem Motiv des Mordes zusammenzuhalten: Kain
ist eifersüchtig auf Gottes Liebe zu Abel. Kain eifert um Gott. Ein
ernstes Wort an alle Fanatiker: der erste Bruderzwist, ja der erste Mord
stammt aus religiösem Eifer um Gott. Psychologisch sehr verständlich
zugleich, sofern der Eiferer sich durch jenes Motiv auch in seinen wildesten
Taten gedeckt fühlt. Die Kirchengeschichte ist voll von Kainiten dieser Art.
Abrigens ist auch diese Umfühlung nicht völlig ohne dichterische Vorgänge:

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