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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 4 (Januarheft 1922)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst: Die Amerikanisierung Deutschlands: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0294

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Aber das letztere ist unter der Herrschaft der Entente und bei dem Mangel
einer erfolggekrönten großen deutschen Armee nicht möglich. Auch dieses
neueste System steht vor dem Dilemma: Diktatur und Gewalt oder Verstän--
digung und Mittebildung. Es wird ohne die letztere nicht gehen. Gewisse
Reden des Herrn Stresemann, der diese Dinge kennt, aber nicht sehr deut-
lich ausspricht, werden jetzt verständlich. Er sucht die „Führer" für die
zweite Seite des Dilemmas zu stimmen. Aud er wird seine guten Gründe
dafür haben, darunter auch sehr sachliche. Die demokratische politische
Maschinerie wird sich bei uns so wenig beseitigen lassen als irgendwo
sonst in der Welt. Es kommt nur darauf an, sie richtig zu bedienen. And
das ist etwas weniger einfach und wohl auch schwerer praktisch durch-
zuführen, als die neuen Führer meinen.

Es ist ohne Zweifel eine große neue Wendung der deutschen Revolu-
tion, die hiermit sichtbar wird. Aber sie wird sich nicht gradlinig und ein-
deutig durchsetzen, sondern auch ihrerseits zu jenen Kompromissen gezwun-
gensein, diedasWesen allerPolitik sind. Diegeistig-moralischeBedeutung
der ganzen Wendung ist dagegen heute schon unverkennbar. Wlr lebeu im
Zustand der Ilnfreiheit der Presse und der beständigen Suggestionen, wie in
Amerika. Sogar der Wille zu einer selbständigen Kritik gegenüber diesen
Suggestionen ist entschwunden, von der Fähigkeit gar nicht zu reden. Die
Allgewalt der Ökonomischen und der Geist einer geschäftsmäßigen Rationa-
lität beherrscht alles,, wo nicht abenteuerndes Spekulantentum der im Chaos
frei sich bewegenden Schlauen das Geschäft ohne Vernunft betreibt. Die
„Geistigen" glauben ihren Zeitungen und kämpfen um Ideen, Schlagworte,
Personen und Tatsachen von gestern und vorgestern. Aber eines darf man
nicht vergessen: diese deutsche Amerikanisierung ist im Anterschied vom wirk-
lichen Amerika rein ökonomisch, geschäftlich, technisch. Die humanitären und
christlichen Anschauungen, der Geist einer konservativen Demokratie, der als
Erbe des Puritanismus heute noch trotz allem Amerika bestimmt, die
Anarchie bändigt und die Gewissen beruhigt: all das fehlt bei uns und
hat keine Tradition. Anser geistiges Leben stammt aus Luthertum und
Katholizismus, aus Klassizismus und Romantik und hat keinen rechteu
Zugang zu dem neuen realistischen Lebensstil, entbehrt der Synthese von
Geist, Moral, Geschäft und Politik, die die Amerikaner haben. Dort
herrscht noch die Verbindung von Aufklärung, Christentum und materiellem
Fortschritt, die überhaupt die moderne Kulturleistung der Angelsachsen
ist. Bei uns sehlt dieser geistige Antergrund und besteht statt dessen ein
ganz anderer, vlel schwerer definierbarer. Ansere Iugendbewegung ins-
besondere begibt sich hente in eben dem Moment, wo Politik und Geschäft
sich unwiderruflich amerikanisieren, an den Gegenpol des äußersten Anti-
Amerikanismus, der phantastischsten Romantik und der Gemütsphiloso-
phie. Die Kulturpolitik des Sozialismus wirbt für Atheismus und Gleich-
machung der Bildung und Begabung. Alles das ist dem amerikanischen
Geist schlechthin entgegengesetzt. Wie werden politisch-soziale Machtbil-
dung und Geist sich vertragen?

Bis jetzt hat das Literatentum der Industrieführung in der Tat den
neuen Amerikanismus eingewickelt in romantische, ständische, mittelalter-
liche Ideologlen, in Nietzsches und Fichtes Führerideen, in einen grund-
sätzlichen Germanismus und hat damit die Verbindung zu der neuen
Staats- und Gesellschaftsidee gesncht, nachdem man anfangs diese Ro°
mantik als echten Kern des wahren Sozialismus und als bleibendes Er-

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