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Zweiter Teil:

Entscheidung und Grenzsehung.
4. Verzicht und Abkehr.
Ls ist jetzt an der Zeit, den Abschnitt von Goethes Leben darzustellen,
in dem die Entscheidung fällt, in dem der Wandel vom jungen, revolutio-
nären, völkischen, politischen Stürmer und Dränger zum gemäßigten, un-
revolutionären Weisen, zum Vertreter von „Kultur" und „Bildung" voll-
zogen wird.
Unmittelbar im Anschluß an die Straßburger Zeit hat sich in Goethe
ein grundlegender Wechsel vorbereitet. Allerdings steht der „Götz" noch
im Bann jener tat- und krastgesegneten Epoche. Dann aber erfolgt 1774
ein Umschwung, der nicht vorauszusehen war: Goethe veröffentlichte sei-
nen „Werther".
Ein innerer Vorgang von allerhöchster Bedeutung für das Dasein
Goethes tritt damit in Erscheinung. Das ins Riesenhafte ge-
steigerte Ich-Bewußtfein der Straßburger Zeit, der
großartige Tatendrang, haben einem bitteren, ent-
sagenden Erkennen Platz gemacht. Formelhaft ausgedrückt
besagt diese Erkenntnis: Die Kraft des in Bindungen mit seinesgleichen
verstrickten Menschen erweist sich als nicht ausreichend. Der Mensch ist in
der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung machtlos und einem ver-
derblichen Geschick anheimgegeben.
Ein undurchdringlicher Pessimismus — „Weltschmerz" — ist an die
Stelle des früheren Kraftbewußtseins getreten. Dieses Ereignis muß in
seiner ganzen Tragweite begriffen werden. Es offenbart, daß Goethe in
die Schwierigkeit der zwischenmenschlichen Stellung geraten ist und zum
ersten Male vor der Unerbittlichkeit des Lebens ratlos dasteht.
Bedeutsam aber wird dieses Zusammenbrechen seiner bisherigen geisti-
gen Welt insofern, als es den Menschen vor die Entscheidung stellt, die
Wirklichkeit der Verhaftung mit anderen Menschen und den Dingen der
Welt anzuerkennen und im Bewußtsein ihrer wahren Natur an die Über-
windung und Meisterung der Schwierigkeiten zu treten, — oder sich von

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