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Vas Deutsche Reich war nicht in der Lage, politische Anforderungen zu
stellen; für die Gewährleistung einer freien Kultur im geistig-sprachlichen
Bereich war es wie geschaffen. Vie staatlichen Einrichtungen der einzelnen
Territorien reichten aus zur Aufrechterhaltung der Ordnung und verhin-
derten wirksam das Zustandekommen einer gesamtdeutschen Politik. Es
darf aber nicht verschwiegen werden, daß Goethe diese Ordnung nicht un-
terschätzt hat. Vas Regieren war ihm ein wichtiges „Metier", das gelernt
sein mußte. „Ich hasse alle Pfuscherei in Staatsangelegenheiten." Vie Auf-
rechterhaltung der Ordnung durch den Staat aber erforderte wenig poli-
tische Bereitschaft. Der Staat sollte eine Organisation sein: „Alles Römische
zieht ihn an der großen Ordnung wegen "." Es ist ein Ordnungssinn ohne
politischen Instinkt, fast könnte man sagen, Goethe fordert die Ordnung
um der Ordnung willen: „Es liegt nun einmal in meiner Natur: ich will
lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen"." „politische
Systeme taugen wenig, so bald sie sich mit der Natur in Widerspruch setzen."
Natur ist hier die wirkliche Natur, die die für den Staat geforderte Ord-
nung von vornherein besitzt. Vie gleiche Organisation ist bei der Ent-
deckung der Urpflanze wirksam, die noch einmal belegt, daß das Un-
politische bis in die Naturbetrachtung sich fortsetzt: denn die Urpflanze ist
das Ergebnis eines stetigen Folgerns und Reduzierens, ist eine Or-
ganisation.
Vas Bestehen einer solchen staatlichen Ordnung aber ließ das Deutsche
Reich in jedem Einzelstaat zu. In dieser Hinsicht ist das Verhältnis
Goethes zum Deutschen Reich ein positives. Seine Zusammensetzung aus
den verschiedenartigsten Territorien erlaubt auf der einen Seite in jedem
von ihnen die Aufrichtung einer staatlichen Ordnung, die Goethe fordert.
Sie verhindert auf der anderen die völkisch-politische Zusammenfassung
Deutschlands unter einen zentralen politischen willen, den Goethe als Be-
drohung der menschlichen Freiheit und Kultur empfindet. Sie stellt schließ-
lich aus Grund einer doch bestehenden sprachlich-völkischen Prägung, die
sich über den formal-politischen Raum des Reiches erstreckt, die geeignete
Grundlage für eine unpolitische, geistig-sprachliche Kultur dar.

" Bericht Boisserees, 11. 8. 1815.
" „Belagerung von Mainz", ZZ, ZI5.

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