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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0031
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Mein Vater.

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wahrte er die gleiche, achtungsvolle Höflichkeit. Diese hält dem Arzte
die Gemeinheit ferne und gewinnt ihm besser als rohe Manieren auch
die Wertschätzung der Niedergestellten, die sich durch höfliches Be-
nehmen des höher Gebildeten geehrt und gehoben fühlen.

So rastlos thätige Aerzte erreichen selten ein hohes Alter, am
wenigsten in der Landpraxis. Sie sind, wie Soldaten im Feld, stets
in Gefahr alarmiert zu werden, oder im Gesecht. Das nnregelmäßige
Leben voller Verantwortung und ohne ausreichenden Schlaf und längere
Erholnng zehrt die Kraft des Körpers und namentlich die des Herzens
vor der Zeit auf. Das wunderbare Pumpwerk, das den Leib Tag
und Nacht ununterbrochen mit Blut versorgen muß, wenn nicht die
ganze Maschine fast augenblicklich stille stehen soll, schlägt beim Er-
wachsenen im Jahre mehr als sechsunddreißig und ein halb Millionen
mal, beim Kinde noch öfter. Diese riesige Arbeit vermag es bei guter
Leibesbeschafsenheit 70 Jahre und länger auszuführen, wenn nicht
übermäßige Ansprüche an die Leistungsfähigkeit des feinen Werkes es
srüher abnützen. Mein Vater brachte es nur auf 60 Jahre, obwohl
er nüchtern und einfach lebte, nur wenig gewürzte Kost nahm und
leichten Landwein mäßig trank. Dem Kasfee allein war er fast leiden-
schaftlich ergeben, er trank ihn viel und stark; ich bin überzeugt, er
wirkte nachteilig auf sein Herz und half sein Leben verkürzen. Er
kannte seine Schüdlichkeit und beschwor mich, den Kassee zn meiden,
konnte selbst aber nicht davon lassen.

Weil ich meinen Vater der ärztlichen Praxis mit Liebe und
Eifer nachgehen sah, bin auch ich seinem Vorbilde gefolgt und Arzt
geworden. Er nahm mich schon als Kind oft mit zu den Kranken
auswärts. Mir schien der Bernf des Landarztes der beste. War
es doch wunderschön, unter sreiem Himmel durch Flur und Feld, Wald
und Wiese zu streifen! Bäuerin und Edelfrau empfingen meinen Vater
mit herzlicher Verehrung und ein Teil ihrer Wertschätzung fiel sogar
auf sein Söhnchen ab. Ein Zoll ihrer Dankbarkeit in Gestalt von
Obst und Backwerk füllte beim Abschied meine Taschen. Als Physikus
war mein Vater überdies eine Respektsperson, nur vor dem Herrn
Oberamtmann zogen Bürger und Bauer den Hut tiefer herab. Jch
wollte Landarzt werden und schließlich Physikus, dies stand sest bei mir.
 
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