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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0032

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Mein Vater.

Nur eine Zeit laug schwaukte ich, ob ich uicht den Beruf eines
Landgeistlichen vorziehen sollte, nachdem ich den köstlichen Frieden eines
Landpfarrhauses gekostet, wo ich, wie das Kind gehalten, zwei Jahre
lang verweilt hatte, doch kehrte ich zu meinem ersten Vorsatz znrück,
sobald ich wieder meinen Vater ärztlich wirken und walten sah.

Der Gebnrtsort meines Vaters, die Wiege unsres Geschlechts, war
Soellingen, ein Dorf der alten Markgrafschaft Baden-Dnrlach in dem
lieblichen Pfinzthal an der Straße von Durlach nach Pforzheim. Er
kam hier am 23. Dezember 1790 zur Welt. Mein Großvater, Jo-
hann Georg Kußmaul, wird in einer amtlichen Znschrift, die ich be-
wahre, Chirurgus genannt. Mit diesem wohlklingenden Titel beehrte
man die Feldscherer, doch besorgte er zweifelsohne die ganze ärztliche
Praxis im Dorfe. Es war auf dem Lande noch nicht Brauch, stu-
dierte Aerzte aus den Städten zu Hilfe zu holen. Der Arzt aus der
Amtsstadt Durlach wurde, wie mir mein Vater erzählte, kaum zwei bis
dreimal im Jahr ins Dorf gerufen, und wenn er hereinfuhr, so liefen
die Leute zusammen und fragten, wer denn sterben müsse? Denn nur,
wenn es ans Sterben ging, ließ man den Doktor holen. — Mein
Großvater starb schon mit 40 Jahren und ließ seine Witwe mit vier
Kindern und wenig Mitteln zurück, doch meine Großmutter, obwohl nur
auf den Betrieb einer kleinen Landwirtschaft angewiesen, schlug sich
mit ihrer Familie tapfer durchs Leben und hatte noch die Freude, bei
ihrem zum Arzte aufgestiegenen Sohne meine Taufe mitzufeiern.

Soellingen war lutherisch. Mein Vater besnchte bis zum 14.
Jahre die Volksschule und half der Mutter in Haus und Feld. Jm
Herbst hütete er mit den andern Dorfkindern, wie es Brauch anf
dem Land, das Vieh auf den Wiesen. Eines Tags ging der Pfarrer
des Orts, ein gutmütiger Herr, namens Schuhmacher — wenn ich in dem
Namen nicht irre — spazieren, und sah den Knaben, ein Buch in der Hand,
bei den Kühen. Verwundert trat er zu ihm und besah das Buch, es
war das lutherische Gesangbuch der baden-durlachischen Markgrafschaft.
Sein Erstaunen wuchs, als er sich überzeugte, daß der junge Mensch,
der eben aus der Schule entlassen war, sämtliche Lieder des Gesang-
buchs auswendig hersagen konnte. Dieser ungewöhnliche Trieb zn lernen
und das gute Gedächtnis des Knaben machten einen solchen Eindruck
 
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