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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0475
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Land und Lente.

455

Jn besonderer Erinnerung blieb mir ein Ritt, den ich in meinem
Bernfe nach Endenburg ausführte, einem hochgelegenen Dörfchen im
Amte Schopfheim. Ein Gewitter war niedergegangen, in köstlicher
Luft nahm ich meinen Weg durch den Wald zur Scheideck hinauf, wo
General von Gagern am 20. April 1848 den Tod gefunden hatte. Dort
biegt die Straße nach Endenburg ab. Wo sie aus dem Walde tritt, öffnet
sich eine weite Aussicht füdwärts gegen die Schweiz. Plötzlich, wie
durch Zaubermacht, lag in kristallener Klarheit die ganze Kette der
Schweizer Hochalpen vor mir; sie erfchienen so nahe, als könnte man
Steine auf die Schneefelder werfen. Ueberrafcht hielt ich mein Pferd
an und blickte bewundernd nach der nahe gerückten Ferne. Am Weg-
rain saß ein alter, in schwerer Arbeit ergrauter Bauer und betrachtete,
in Andacht versunken, das herrliche Bild. Unerwartet wandte er fich
an mich; das Herz war ihm aufgegangen, er mußte seine Gefühle aus-
sprechen. „O! wie groß und schön," redete er mich an, „find die
Werke der Schöpfung!" „Ja!" wiederholte ich feine Worte, „sie find
groß und schön!" grüßte und ritt nachdenkend weiter. — Es wird
behauptet. der Sinn für landschastliche Schönheit fei das Erzeugnis
unserer modernen, hochfeinen Bildung, die Worte des armen Bäuerleins
beweisen, daß die neuzeitliche Kultur ihn nicht erzeugt, sondern nur
geschärft haben kann.

Die Bewohner des Hochblauen hießen in Kandern die „Wälder"
(Schwarzwälder) zum Unterschiede von denen des Hügellandes zwischen
Kandern und dem Rheine. Obwohl sie eines Stammes und eines Be-
kenntnisfes, des evangelischen, find, und die Weiber die gleichen Flügel-
hauben und „Fürtücher" (Brusttücher) tragen, waren sie doch damals
ungleich in Gesittung, der Wälder stand tief unter dem Markgräfler
der Vorhügel. Wie dies seither geworden ist, vermag ich nicht zu
fagen. Die anffallende Verfchiedenheit mochte ihren Grund teils in
der größeren Abgeschlosfenheit der Gebirgsorte, teils und mehr noch in
deren rauherem Klima haben. Der Wald und die Viehzucht brachten
dem Wälder die Mittel zum Unterhalt des Lebens, die fonnigen Hänge
der Vorhügel fpendeten den Bewohnern des Tieflandes Weizen und
Wein. Lebensweise und Lebensgenuß gestalteten sich für jene anders,
als für diefe.
 
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