Ueber den Gemüthsausdruck des Antinous äussert
sich Michaelis zusammenfassend in:
Deutsche Litteraturzeitung. Herausgeg. von M. Rödiger. Jahrg. V.
Berlin 1884.
(Sp. 1387:) »Mir sind immer der düstere, ge-
legentlich fast an Wildheit grenzende Ausdruck
von Stirn und Auge und der sinnliche Zug um
den Mund mit seinen dicken Lippen . . . charak-
teristisch erschienen.«
Ob der berühmte Archäologe wohl an Heinse's
Bemerkung gedacht haben wird, als er das Wörtchen
»wild« niederschrieb? Die Frage mag gestellt werden,
da es sich doch zu wunderbar ausnimmt, dass, nach
Verlauf von hundert Jahren, nun er wieder auf das
Wort zurückgekommen ist, welches, herzlich unbeachtet,
der feurige Poet gelegentlich über den Antinous fallen
gelassen. Eine kleine »stilkritische« Untersuchung wird
hier am Platze sein. Und wer uns etwan vorhalten
möchte, wir hörten das Gras wachsen, dem sei frank
und frei erwidert: allerdings, mit Wonne thäten wir
das, mit Leidenschaft belauschten wir Alles und Jedes,
das Geringste wie das Grösste, wenn es zur Klarstellung
der Thatsachen beiträgt. Heinse schwelgt förmlich in
»Wildheit«: es ist der zu meist wiederkehrende Lieb-
lingsausdruck seines keineswegs karg zubemessenen
Wortschatzes. Die flüchtigste Lektüre seiner Schriften
muss das lehrenx).
') Briefe zwischen Gleim, W. Heinse und Joh. v. Müller, I, 3: »Ich
bin noch ein Wilder« ; 10: »da ich aber binnen dieser acht Jahren meinem
Genius seine Wildheit noch nicht gänzlich habe benehmen können« ; 13,35 :
»martern lassen, und, wie ein amerikanischer Wilder, nur voll von einer
erhabenen Begeisterung — keine Schmerzen fühlen!«; 61: »Der ich in den
sich Michaelis zusammenfassend in:
Deutsche Litteraturzeitung. Herausgeg. von M. Rödiger. Jahrg. V.
Berlin 1884.
(Sp. 1387:) »Mir sind immer der düstere, ge-
legentlich fast an Wildheit grenzende Ausdruck
von Stirn und Auge und der sinnliche Zug um
den Mund mit seinen dicken Lippen . . . charak-
teristisch erschienen.«
Ob der berühmte Archäologe wohl an Heinse's
Bemerkung gedacht haben wird, als er das Wörtchen
»wild« niederschrieb? Die Frage mag gestellt werden,
da es sich doch zu wunderbar ausnimmt, dass, nach
Verlauf von hundert Jahren, nun er wieder auf das
Wort zurückgekommen ist, welches, herzlich unbeachtet,
der feurige Poet gelegentlich über den Antinous fallen
gelassen. Eine kleine »stilkritische« Untersuchung wird
hier am Platze sein. Und wer uns etwan vorhalten
möchte, wir hörten das Gras wachsen, dem sei frank
und frei erwidert: allerdings, mit Wonne thäten wir
das, mit Leidenschaft belauschten wir Alles und Jedes,
das Geringste wie das Grösste, wenn es zur Klarstellung
der Thatsachen beiträgt. Heinse schwelgt förmlich in
»Wildheit«: es ist der zu meist wiederkehrende Lieb-
lingsausdruck seines keineswegs karg zubemessenen
Wortschatzes. Die flüchtigste Lektüre seiner Schriften
muss das lehrenx).
') Briefe zwischen Gleim, W. Heinse und Joh. v. Müller, I, 3: »Ich
bin noch ein Wilder« ; 10: »da ich aber binnen dieser acht Jahren meinem
Genius seine Wildheit noch nicht gänzlich habe benehmen können« ; 13,35 :
»martern lassen, und, wie ein amerikanischer Wilder, nur voll von einer
erhabenen Begeisterung — keine Schmerzen fühlen!«; 61: »Der ich in den