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Zwölf Jahre nach Kriegsausbruch

Das ist schon so gut wie gar nicht gewesen,

Kaum noch wissenschaftliches Studienobjekt,

Wie wir zwischen Höllengestank und Verwesen
In Erdlöchern schauerlich verreckt.

Wer weiß noch etwas von Gelbkreuzgasen,
Prothesen, von angeflickten Nasen,

Vom Stacheldraht mit Leichenbehang?

Das liegt so lange zurück — so lang,

Was kümmern uns vergangene Phasen!

Wer sieht noch die Wunden voller Fliegenschwärme,
Die aus dem Leib explodierten Gedärme,

Die Unterstände, verlaust und verwanzt,

Die eiternden Kieferoperationen,

Wenn er zu meckernden Saxophonen
Seinen gesicherten Charleston tanzt?!

Gottlob — zwölf Jahre sind seitdem vergangen,

Wir kriegten nach kurzem Ohnmachtsanfall
Die Republik durch Lehnsgang im Mannfall
Und haben ganz neu wieder angefangen.

(Wobei wir von dem „bewährten Alten“

Das meiste übrigens beibehalten.)

Zeichnung von Willibald Krein

Da sollt’ mit den lumpigen zwei Millionen
Tote, oder wieviel es waren,

Endlich man uns’re Ohren verschonen.

So was vergißt sich mit den Jahren!

Das Volk, gottlob, verwendet die Kräfte
Zur Wiederankurbelung der Geschäfte. "
Wer denkt da an gewesene Sachen?

Mein Lieber, da ist eben nichts zu machen!
Stört doch der Welt ihr bißchen Vergnügen
Nicht dauernd mit Sentimentalitäten!

Wir müssen uns mit dem Heute begnügen;
Denn wir leben im Zeitalter der Realitäten!

So schallt es mir im zwölften Jahr
Des Kriegsausbruchs verärgert entgegen.

Und ich schwiege gern — euretwegen.

Doch — da ist eine Realität,

Die ungeheuer — unmittelbar
Mitten unter uns steht,

Die nur Ihr Realisten nicht seht:
Kriegsgefahr . . . !

Mich, von Lindenhecken.

Deutschlands Erweckung

Nämlich die von 1914!

Der Kaiser rief und alle, alle, die gerade nichts anderes vor-
Hatten, kamen und griffen, teils zum Schwerte, teils in die
Saiten.

Erftere fochten für„keineHandbreitdeutschenBodens", letztere
für die geistige Erweckung des Vaterlandes.

Geschwollene Dichterherzen drohten Chemisette in die Luft
zu sprengen; Kunst und Kunftgewerbe stellten ihre Betriebe auf
geistige Munitionsherstellung um.

Ja, der deutsche Formenwille brach mit elementarer Wucht
aus den schlummernden Geschmackszentren. Jeder Deutsche
wurde ein Bildner. Die Straßen füllten sich, die Hallen näm-
lich, mit Kunst und Kunstgewerbe.

Bierdeckel- und Fliegentütenfabrikanten bemächtigten sich der
ehernen Gestalt des Siegers von Tannenberg und vervielfältig-
ten ihn bis zur Unkenntlichkeit.

Keine noch so defekte Kognakflasche entging dem Schicksal,
am heimischen Herd zur täuschend imitierten Ausbläsergranate
umgeftaltet zu werden.



Aschbecher schwangen sich zu bronzierten Kyffhäuseraufsätzen
empor.

Frauenvereine entwarfen Bettvorleger mit Sturmangriffen.

Kein Klosettpapier ließ es sich nehmen, an Stätten der stillen
Einkehr an deutsche Treue und welsche Tücke zu gemahnen.

Frühstückskäse, Suppenwürfel und Cichorienersätze bekamen
Generalsrang und kleine Haßgesänge in gotischer Frattur mit
auf den Weg.

Familienbilder räumten ihren alten Platz auf den Etageren
dem Kaiser in stillem Gebet oder der Kaiserin mit der Zigarren-
kiste im Lazarett.

Es gab kein Plätzchen, und sei'ö noch so klein, von dem man
nicht konnte sagen: da paßt noch ein Eisernes Kreuz hinein!

Philologische Barden warfen sich mit dräuendem Hühner-
augenrollen in die Speichen der Weltgeschichte.

Allerhöchste Herrschaften stellten sich der neuen geistigen Ära
mit Protektorat und Tat zur Seite.

Aus der Tiefe des Volkstums, sofern es nicht durch Gewehr-
reinigen verhindert war, brachen ganze eingetragene Vereine

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