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gezeigt haben werden, eine beträchtliche Fähigkeit in der
naturalistischen Umrißzeichnung ihm besonders bekannter
Gegenstände, so vor allem der Tiere, gehabt. Es besteht
also darüber kein Zweifel, daß das Auge in primitiven
Zeiten die Dinge mit im ganzen demselben Apparat auf-
nimmt, der auch uns zur Verfügung steht. Allein diese
Tatsache ist rein physiologischen Charakters und hat mit
der physischen Entwicklung und das heißt mit der Kul-
turentwicklung der Menschheit nur insofern zu tun, als
es allerdings denkbar, ja wahrscheinlich ist, daß sich der
Apparat unter den psychischen Einwirkungen höherer Kul-
turstufen verfeinern und insofern verbessern kann oder
muß. In den primitiven Kulturstufen aber kommt es über-
haupt nicht auf die naturalistische Wiedergabe der Erschei-
nungen an, soweit diese Wiedergabe der Phantasietätigkeit
angehört, sondern nur auf deren ungefähre Umschreibung.
Man weiß, daß das auch heute bei primitiven Völkern der Fall
ist. Professor Weule erzählte mir, daß ein Eingeborener
unserer ostafrikanischen Kolonie, den er aufforderte, eine
bestimmte, ihm deutlich gezeigte Negerhütte zu zeichnen,
diese gar nicht ansah, sich mit dem Rücken gegen sie setzte
und nun den allgemeinen Typ einer Negerhütte aufs Papier
warf. Das ist echt primitive Kunst.
Ist es aber nicht im Grunde auch die hohe Kunst der
Gegenwart? Zu allen Zeiten haben die idealistischen Ele-
mente der Kunstentwicklung als die wesentlichen gegolten,
und niemals hat auf die Dauer ein Kunstwerk durchschla-
gende Bedeutung bewahrt, das sich auch nur der Absicht
nach nichts anderem als der reinen Wiedergabe der Dinge
widmete. Aus diesem Zusammenhang geht freilich noch
nicht hervor, daß nun die Kunstentwicklung einer bestimm-
ten menschlichen Gemeinschaft sich aus beliebigen, in be-
liebiger Reihenfolge aufeinanderfolgenden Idealismen zu-
 
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