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Liedtke, Heinrich
Die Beweise für das Dasein Gottes bei Anselm von Canterbury und Renatus Cartesius — Heidelberg, 1893

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https://doi.org/10.11588/diglit.52714#0010
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B. Die Beweise für das Dasein Gottes.
I. Teil.
Die Beweise des Anselm von Canterbury für das
Dasein Gottes.
1. Einleitung: Charakteristik der philosophischen Haupt-
richtung des XI. Jahrhunderts und die Stellung Anselms
von Canterbury in derselben.
a) Die philosophische Richtung des XI. Jahrhunderts.
Das Mittelalter empfing von der alten Kirche feste, dogma-
tische Lehren über die wesentlichen Punkte des Christentums, die
von den ökumenischen Synoden der ersten acht Jahrhunderte fest-
gestellt, unveränderlich für alle Zeit gelten sollten. Sie waren
festgestellt vielfach unter dem wenn auch unbewussten Einfluss
der griechischen Philosophie und jüdisch alexandrinischen Specu-
lation, trotzdem sich die officielle Kirche in ihren bedeutendsten
Schriftstellern — man denke z. B. an Tertullian — absolut ab-
lehnend gegen alle Philosophie verhielt. Man glaubte in dieser
die Mutter der γνώσις und damit aller Ketzereien zu erblicken.
Das ging so weit, dass man den grössten Theologen der ältesten
Kirche, Origenes, dessen System unverhüllt philosophische Züge
zeigte, bereits zu seinen Lebzeiten als Ketzer verfolgte, um ihn
mehrere Jahrhunderte nach seinem Tode in den monophysitischen
Streitigkeiten des sechsten Jahrhunderts feierlich zu verdammen.
So wird es uns nicht Wunder nehmen, wenn im neunten Jahr-
hundert Synoden, Bischöfe und Päpste den einzigen originellen
philosophischen Denker der Zeit Johann Scotus Erigena verfolgen
und verdammen. Der Kirche war eben nicht mehr mit eigener
neuer Speculation über ihr Dogma und seine Einzelheiten gedient,
das einzige, was sie von ihren Theologen und Philosophen verlangte
und verlangen musste, war, dass sie sich bemühen sollten, das
Dogma auch dem gewöhnlichen Verstände klar und einleuchtend
zu machen, es auf rationelle Weise zu begründen. Es ist das die
eigentliche Hauptaufgabe der Scholastik, wie sie uns zum ersten
Male im elften Jahrhundert entgegentritt. Sie soll, wenn die
Kirche erklärt hat, dass etwas geglaubt werden muss, die Gründe
angeben, warum es zu glauben ist, den überlieferten Dogmenstoff'
lehr- und lernbar machen, in ein einheitliches System zusammen-
fassen.
An diesem Punkte wird es einleuchtend, dass mit innerer
Nothwendigkeit die Entwicklung der Scholastik bedingt und beein-
 
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