Nun einen Schritt weiter: zur Kunst der Renaissance.
Wirft man einen Blick auf die Anordnung der Renaissance-Statuen und
-Bilder, so fällt es sofort auf, daß es hier bereits viel mehr Freiheit gibt.
Weniger dienendes Sichunterordnen, mehr Selbständigkeit. Auch in dem
Gegenstand der Darstellung entfernen sich die Künstler bereits von der
zentralen geistigen Kraft, von der Religion. Und obwohl die Komposition
der Bilder zumeist eine symmetrische Anordnung aufweist — allgemein
bekannt ist das Dreieckschema der Renaissance-Komposition —, innerhalb
der Symmetrie bewegen sich die einzelnen Gestalten gänzlich frei. Nir-
gends sind ihre Formen der Komposition zuliebe verzerrt, sie sind gesund
und vollkommen. Besonders für die Hoch-Renaissance ist diese völlig
natürliche, entspannte, freie Bewegung und Form ihrer Gestalten charak-
teristisch. Doch nimmt man das Werk irgendeines Ästhetikers zur Hand,
so findet man die schematische Zeichnung der berühmtesten Kunstwerke
der Renaissance, kreuz und quer liniiert mit geheimnisvollen Dreiecken
und Geraden. Bei näherer Betrachtung stellt es sich heraus, daß jene voll-
kommene Ungebundenheit nur dem Schein nach besteht, daß eine ver-
borgene, aber weise Ordnung vorhanden ist, daß die Konturen der Ge-
stalten unter der Herrschaft feiner, unsichtbarer Pyramiden und Diagonalen
stehen, daß die Bewegung der einen Gestalt unendlich harmonisch mit
der Bewegung der anderen korrespondiert usw. usw. Man sieht: das sym-
bolische Bild einer idealen Synthese von Ordnung und Freiheit. Restlose
Harmonie, vollkommene O r d n u n g freier Individuen. Jedermann lebt
sein eigenes Leben, ohne die Einheit der Gemeinschaft zu stören. Und dies
kann — laut Zeugenschaft der Renaissancekunst — nur erreicht werden, wenn
ein jeder seine Freiheit in weiser Selbstmäßigung, mit edler Haltung lebt.
Dasselbe symbolische Bild bietet die Kunst aller übrigen plastischen Kul-
tur-Epochen. Die Haltung der Gestalten des Phidias ist sehr analog: mit
scheinbar vollkommener Ungebundenheit ordnen sich die Tympanon-Figuren
des Parthenons in das Dreieck. In Japan: ist die Horyuji-Trinität (Abb. 54)
(Trinität heißt die sitzende Buddha-Gestalt, beiderseits flankiert von den
stehenden Gestalten je eines Boddhisatwa) in der Suiko-Periode noch
Symbol der starren Ordnung. Der Aufbau der Gruppe ist streng symme-
trisch, starr und rein frontal ist jede Gestalt für sich. Ganz anders die
Trinität der Glanzzeit, der Tempyo-Periode (in Yakushiji, Nara; Abb. 157).
Im Rahmen der symmetrischen Anordnung ergänzen sich die Bewegungen
der beiden begleitenden Gestalten mit freier Natürlichkeit.
Kaum ist die Barockzeit angebrochen, hört überall die Herrschaft der
Symmetrie auf, und gleichzeitig schwindet aus der Kunst jede bewußte, ins
Auge springende Ordnung. Das Gegenteil: bewußte Asymmetrie, bewußte
Ungebundenheit, Freizügigkeit herrschen mehr und mehr.
Besonders lehrreich ist die der Renaissance folgende Epoche: ihre
Künstler erinnern den Betrachter absichtlich an die Ordnung, die sie mit
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Wirft man einen Blick auf die Anordnung der Renaissance-Statuen und
-Bilder, so fällt es sofort auf, daß es hier bereits viel mehr Freiheit gibt.
Weniger dienendes Sichunterordnen, mehr Selbständigkeit. Auch in dem
Gegenstand der Darstellung entfernen sich die Künstler bereits von der
zentralen geistigen Kraft, von der Religion. Und obwohl die Komposition
der Bilder zumeist eine symmetrische Anordnung aufweist — allgemein
bekannt ist das Dreieckschema der Renaissance-Komposition —, innerhalb
der Symmetrie bewegen sich die einzelnen Gestalten gänzlich frei. Nir-
gends sind ihre Formen der Komposition zuliebe verzerrt, sie sind gesund
und vollkommen. Besonders für die Hoch-Renaissance ist diese völlig
natürliche, entspannte, freie Bewegung und Form ihrer Gestalten charak-
teristisch. Doch nimmt man das Werk irgendeines Ästhetikers zur Hand,
so findet man die schematische Zeichnung der berühmtesten Kunstwerke
der Renaissance, kreuz und quer liniiert mit geheimnisvollen Dreiecken
und Geraden. Bei näherer Betrachtung stellt es sich heraus, daß jene voll-
kommene Ungebundenheit nur dem Schein nach besteht, daß eine ver-
borgene, aber weise Ordnung vorhanden ist, daß die Konturen der Ge-
stalten unter der Herrschaft feiner, unsichtbarer Pyramiden und Diagonalen
stehen, daß die Bewegung der einen Gestalt unendlich harmonisch mit
der Bewegung der anderen korrespondiert usw. usw. Man sieht: das sym-
bolische Bild einer idealen Synthese von Ordnung und Freiheit. Restlose
Harmonie, vollkommene O r d n u n g freier Individuen. Jedermann lebt
sein eigenes Leben, ohne die Einheit der Gemeinschaft zu stören. Und dies
kann — laut Zeugenschaft der Renaissancekunst — nur erreicht werden, wenn
ein jeder seine Freiheit in weiser Selbstmäßigung, mit edler Haltung lebt.
Dasselbe symbolische Bild bietet die Kunst aller übrigen plastischen Kul-
tur-Epochen. Die Haltung der Gestalten des Phidias ist sehr analog: mit
scheinbar vollkommener Ungebundenheit ordnen sich die Tympanon-Figuren
des Parthenons in das Dreieck. In Japan: ist die Horyuji-Trinität (Abb. 54)
(Trinität heißt die sitzende Buddha-Gestalt, beiderseits flankiert von den
stehenden Gestalten je eines Boddhisatwa) in der Suiko-Periode noch
Symbol der starren Ordnung. Der Aufbau der Gruppe ist streng symme-
trisch, starr und rein frontal ist jede Gestalt für sich. Ganz anders die
Trinität der Glanzzeit, der Tempyo-Periode (in Yakushiji, Nara; Abb. 157).
Im Rahmen der symmetrischen Anordnung ergänzen sich die Bewegungen
der beiden begleitenden Gestalten mit freier Natürlichkeit.
Kaum ist die Barockzeit angebrochen, hört überall die Herrschaft der
Symmetrie auf, und gleichzeitig schwindet aus der Kunst jede bewußte, ins
Auge springende Ordnung. Das Gegenteil: bewußte Asymmetrie, bewußte
Ungebundenheit, Freizügigkeit herrschen mehr und mehr.
Besonders lehrreich ist die der Renaissance folgende Epoche: ihre
Künstler erinnern den Betrachter absichtlich an die Ordnung, die sie mit
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