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1400 herum werden bekanntlich Kretas Paläste auf noch nicht ergründete
Art nieder geb rannt und zerstört.
Nebst dieser sehr deutlich merkbaren Parallelität der ägyptischen und
kretensischen Kultur ent wicklung ist aber der ganze Charakter von Kretas
Kunst ein Beweis dafür, daß man es hier zwar mit einem sehr malerischen
Nebenzweig, immer aber noch mit demselben Kulturkreis zu tun hat.
Denn trotz der Leichtflüssigkeit und Lebensfülle der auf uns überkomme-
nen kretensischen Reste, trotz des geradezu verblüffenden Naturalismus
einiger Reliefs (Abb. 229 u. 230), ist es dennoch von Anfang bis zu Ende
eine Kunst, die keine Perspektive kennt, deren Figuren streng im Profil ab-
gebildet werden, die bei den Statuen an der Frontalität festhält, die ihre
Gebäude ganz nach innen kehrt — es ist noch ganz jene architektonische
Gebundenheit, von der sich nur etliche Jahrhunderte später griechische
Kunst freimachen konnte. Denkt man an dies, so mag man zugeben, daß
der Unterschied beider Kulturen, beider Künste nicht viel tiefer geht als
etwa der Unterschied zwischen dem plastischen Barock des katholischen
Italiens und dem malerischen des protestantischen Hollands.
Das Gegenteil dieser Feststellungen ergibt sich, wenn man Kretas Kunst
mit derjenigen von Mykene und Tiryns vergleicht. Hier ist der erste Ein-
druck der einer vollständigen Identität (Abb. 232). Eingehendere Unter-
suchung weist tiefgehende, sehr wesentliche Unterschiede auf.
Gegenüber der leichten, flüssigen, sinnlichen Art Kretas ist nämlich die
Kunst des damaligen Griechenlands um einen Grad ernster, steifer. Dies
zeigt sich bereits an den Trachten — neben der losen Kleidung der Frauen,
die auf kretensische Art den Busen freiläßt, tritt hier auch eine andere,
verhüllende, dem Chiton ähnliche auf. Aus den breit daliegenden, nur von
einer leichten Mauer umschlossenen, unbefestigten Palästen Kretas werden
hier eng zusammengedrängte, mit Wällen, Türmen, gut ausgedachten Ver-
teidigungsmitteln umgebene Burgen (Abb. 231). Der echt architektonische
Drang, sich einen abgeschlossenen Raum zu schaffen, in dem, von der
Außenwelt abgetrennt, Menschen sich versammeln können, meldet sich in
sehr eindrucksvoller Weise. So eng und klein die Burgen des Festlandes
auch seien — ihr Kern ist ein Hauptsaal, Megaron genannt, der an Aus-
dehnung die Säle der kretischen Paläste weit übertrifft. Die recht un-
scheinbaren Kuppelgräber Kretas wachsen hier zu ganz überraschenden
Dimensionen an: die unterirdische Kuppel des sogenannten Schatzhauses
des Atreus mit ihrem gewaltigen Durchmesser (15 Meter!) hat in Kreta
nicht annähernd ihresgleichen (Abb. 234). Der Palast Kretas, um
einen Hof gruppiert, mit in Pfeiler aufgelösten Wänden, mit malerischen
Durchblicken, mit Lichthöfen — ist die verweltlichte, malerisch leichte, auf-
gelöste Form des ägyptischen Baues. Die Burgen von Tiryns und Mykene
sprechen von Trutz und Kraft und Konzentration — nach malerischem Ende
von architektonischen Neubeginnen. Aber bereits in Tiryns und Mykene
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