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Lübke, Wilhelm
Grundriss der Kunstgeschichte — Stuttgart, 1864

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https://doi.org/10.11588/diglit.2899#0273
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Kapitel I. Altchristliche Kunst 3. Bildnerei und Malerei. 253

mag die sogenannte Dalmatica Karls des Grossen im Schatz von S. Peter
in fiom genannt werden.

TJeberblicken wir die altchristliche Kunst in ihrer gesammten Erschei-
nung, so lässt sich nicht verkennen, dass sie anfangs von frischer Be-
geisterung getragen einen kräftigen Anlauf nimmt, grosse Grundformen
neu hervorbringt, einen Kreis idealer Gestalten schafft, dann aber bald
kraftlos wird, im Wollen und Können nachlässt und endlich theils in ver-
knöcherten Schematismus, theils in rohe Verwilderung ausmündet. Diese
Erscheinung mag uns unerfreulich dünken, — nothwendig und heilsam
war sie doch. Die Völker des antiken Kulturkreises hatten sich erschöpft
und vermochten, selbst unter dem Anhauch einer neuen religiösen An-
schauung, unmöglich ein frisches Leben von Grund aus zu gestalten. Sie
waren aber doch fähig, eine dem Kultus entsprechende Kirchenform und
eine Summe bildnerischer Gestalten noch für alle Zukunft als mächtige
Typen hinzustellen, und däss sie mit den Mitteln der antiken Kunst dies
vermochten, ist vielleicht der schlagendste Beweis für die unerschöpfliche
Lebenskraft, derselben. Hierin lag aber auch die Schranke ihres Schaffens.
Die germanischen Völker waren noch zu wenig entwickelt, um ein ent-
scheidendes Gewicht in die Wagschale der Kunstentfaltung werfen zu
können. Verfielen sie doch selbst im staatlichen Leben noch immer den
Eeminiscenzen römischer Zeit, wie schon die Erneuerung des Cäsarenreiches
durch Karl den Grossen beweist. Um wie viel mehr mussten sie in der
Kunst dem TJebergewicht der antiken Tradition in altchristlicher Fassung
und Umbildung erliegen! Andere Zeiten mussten kommen, wo die ITeber-
macht antiker Bildung nicht mehr so allgemein das Leben beherrschte, wo
das Selbstgefühl der germanischen Stämme sich in neuen staatlichen Ge-
staltungen ausgeprägt hatte, um auch dem geistigen Bedürfniss einer selb-
ständigen Kunstweise genügen zu können. Für diese Folgezeit die grossen
Grundzüge festgestellt zu haben, aus welchen ein unendlich reiches, viel-
gestaltiges Schaffen sich entfalten konnte, ist das bedeutsame Verdienst
der altchristlichen Kunst.
 
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