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Maison, Karl Eric; Ayrton, Michael [Hrsg.]; Zeller, Alfred P. [Hrsg.]
Bild und Abbild: Meisterwerke von Meistern kopiert und umgeschaffen — München, Zürich, 1960

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https://doi.org/10.11588/diglit.31128#0011
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EINFÜHRUNG

Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Vorstellungen darüber, was in der Kunst gültig oder un-
gültig ist, recht verschwommen sind. Eine Geisteshaltung, deren Wurzeln noch im 19. Jahrhundert
liegen, läßt uns die künstlerische Originalität derart hoch bewerten, daß jedes-Nachahmen als Tod-
sünde angesehen wird, als etwas, das sich bestenfalls junge Kunstschüler erlauben dürfen; und selbst
diese werden rot, wenn man sie dessen beschuldigt. Wer kopiert, wer in den Spuren anderer Künst-
ler wandelt, ja selbst wer nur Anleihen bei der Vergangenheit macht, wird abgelehnt — es sei denn,
er tue dies in witziger Paraphrase. Ein Künstler, der sich am Vorbild großer Meister schult, wird von
einer boshaften Kritik als „unselbständiger Nachfolger" bezeichnet. Dem Publikum, das sich von
diesen oberflächlichen Wertungen leicht beeindrucken läßt, nach denen „Eigenständigkeit" und
„persönlicher Stil" als Höchstes betrachtet werden, gilt ein so apostrophierter Künstler als unbedeu-
tend; er mag noch so talentiert sein, man steht ihm mit Mißtrauen gegenüber, verdächtigt ihn, einen
zum Narren halten zu wollen, oder man versucht allenfalls, wenn er noch jung ist, ihn mit der Be-
gründung zu entschuldigen, er suche eben noch seinen eigenen Stil.

Eine nicht unwesentliche Rolle spielt bei alledem die Auffassung, daß durch die modernen mechani-
schen Reproduktionstechniken die Kunst aller Zeiten jedem Menschen zugänglich geworden sei.
Das stimmt insofern, als beispielsweise eine farbige Kunstpostkarte mit Midielangelos Jüngstem
Geridit eine gewisse Vorstellung zu geben vermag. Bedenklich ist es jedodh, daß man eine solche
Reproduktion trotz der unvermeidlichen Verfälschungen der Farbwerte, der Oberflächenstruktur, der
Pinselführung und allem anderen, das wir großzügig übersehen, jeder Kopie vorzieht.

Allgemein sagt man heute geringschätzig: „bloß eine Kopie", und die meisten Menschen glauben,
durch die Erfindung der technischen Reproduktionsverfahren sei das Bedürfnis nach Kopien erloschen.
Je mehr die Reproduktion in der Kunst an Boden gewonnen hat, desto geringer ist die Kopie gewer-
tet wörden. Dabei ist die Bezeichnung „Reproduktion" ebenso falsch wie irreführend, denn durch
mechanisdie Methoden wird das Gemälde ja nicht „wiedergeschaffen", wie das Wort eigentlich be-
sagt, sondern lediglich nachgeahmt, und die Genauigkeit, mit der das geschieht, ist oft geringer als
die der schlechtesten Kopie. Eine in Ö1 ausgeführte Kopie von der Hand selbst eines unbedeutenden
Malers ist dem Original zumindest in Material und Entstehungsweise ähnlich. Eine Reproduktion
jedoch hat in dieser Hinsicht mit dem Original nichts gemeinsam — was bei Faksimilewiedergaben
von Zeichnungen und Aquarellen zwar weniger ins Gewicht fällt —, und deshalb wäre es vielleicht
gut, wenn man die „Reproduktionen" von ölgemälden von Renoir und van Gogh, die die Wände
so vieler Wohnungen zieren, als „farbige Imitationen" bezeichnen würde, was allerdings weit weni-
ger vornehm klingt.
 
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