Vie Anfänge der Germanen 37
Sehen wir uns die Germanen der Wanderungszeiten an, jo finden
wir ein Ruiturvolk von höchster Befähigung. Ihre Religionsanschau-
ungen, ihr Familienleben, das Demokratische, Genossenschaftliche in
ihrer Rechtspflege und in ihren ersten staatlichen Einrichtungen und
wiederum die Absonderungssucht, die Feindschaft gegen das Uni-
forme, die eine individuelle Entwicklung begünstigen — das alles sind
Züge, die im Gegensätze zu der antiken Weltauffassung stehen, und die
doch dies Volk als befähigt erscheinen lassen, die Erbschaft der Antike
anzutreten und Träger der neuen, höheren Rultur zu werden. Uber
eine besondere Befähigung für künstlerische Dinge läßt sich noch kaum
ahnen. Natürlich, denn bei einem Volke, das damit begann, sich die be-
kannte Welt zu erobern, mußten sich die Gaben des Wollens und des
Geistes eher entwickeln als die des Gemütslebens. „Unter allen von der
Natur den Germanen mitgegebenen seelischen Rräften ist das ästhe-
tische Uuge am spätesten erwacht", sagen Vehio und v. Bezold. — Be-
achtenswert sind wohl die Spuren einer an das Griechentum erinnern-
den Volksdichtung f aber von einem Verhältnis zur bildenden Runst
kann vorerst nicht die Rede sein. Eine gewisse Achtung vor den Er-
zeugnissen der bildenden Runst dürfen wir den Germanen zutrauen.
Soweit wir sehen können, sind Hülle von Vandalismus selten, und wir
denken uns den siegreichen Germanen mit scheuer Achtung durch die
kunsterfüllten Straßen der eroberten Städte wandern, fremdartig be-
rührt von den Denkmälern der antiken Runst und, wenn er dazu kam,
aus äußerlichen Gründen sich auf diesem Gebiete irgendwie zu be-
tätigen, eher geneigt, nachzuahmen und nachzuempfinden, als tief in
ihm schlummernde Reime aus den heimischen Verhältnissen selbstän-
dig weiter zu entwickeln. Vas Neue, was man sah, machte zu starken
Eindruck, als daß man dem gegenüber an die Holz- und Lehmkate der
heimischen Urwälder gedacht hätte. Ein großer Teil der Germanen
siedelte sich ja auf dem Boden der fremden Rultur an. Wenn ihre
Fürsten sich feste Sitze bauten, so richteten sie sich nach dem auf das
castrum (Lager) zurückgehenden römischen Palast, wie uns die Reste
von Theoderichs^) Bauten in Verona, Ravenna, bei Terracina mnd
Spoleto beweisen. An dem in Ravenna errichteten Grabmonumente
Theoderichs sieht man wohl, daß der oströmische Zentralbau über-
nommen wurde, aber man ahnt nur aus wenigen Zügen ganz leise,
1) Rönig der Gstgoten (493—526), der erste deutsche Kürst, der eine
Zusammenfassung der germanischen Stämme anstrebte.
Sehen wir uns die Germanen der Wanderungszeiten an, jo finden
wir ein Ruiturvolk von höchster Befähigung. Ihre Religionsanschau-
ungen, ihr Familienleben, das Demokratische, Genossenschaftliche in
ihrer Rechtspflege und in ihren ersten staatlichen Einrichtungen und
wiederum die Absonderungssucht, die Feindschaft gegen das Uni-
forme, die eine individuelle Entwicklung begünstigen — das alles sind
Züge, die im Gegensätze zu der antiken Weltauffassung stehen, und die
doch dies Volk als befähigt erscheinen lassen, die Erbschaft der Antike
anzutreten und Träger der neuen, höheren Rultur zu werden. Uber
eine besondere Befähigung für künstlerische Dinge läßt sich noch kaum
ahnen. Natürlich, denn bei einem Volke, das damit begann, sich die be-
kannte Welt zu erobern, mußten sich die Gaben des Wollens und des
Geistes eher entwickeln als die des Gemütslebens. „Unter allen von der
Natur den Germanen mitgegebenen seelischen Rräften ist das ästhe-
tische Uuge am spätesten erwacht", sagen Vehio und v. Bezold. — Be-
achtenswert sind wohl die Spuren einer an das Griechentum erinnern-
den Volksdichtung f aber von einem Verhältnis zur bildenden Runst
kann vorerst nicht die Rede sein. Eine gewisse Achtung vor den Er-
zeugnissen der bildenden Runst dürfen wir den Germanen zutrauen.
Soweit wir sehen können, sind Hülle von Vandalismus selten, und wir
denken uns den siegreichen Germanen mit scheuer Achtung durch die
kunsterfüllten Straßen der eroberten Städte wandern, fremdartig be-
rührt von den Denkmälern der antiken Runst und, wenn er dazu kam,
aus äußerlichen Gründen sich auf diesem Gebiete irgendwie zu be-
tätigen, eher geneigt, nachzuahmen und nachzuempfinden, als tief in
ihm schlummernde Reime aus den heimischen Verhältnissen selbstän-
dig weiter zu entwickeln. Vas Neue, was man sah, machte zu starken
Eindruck, als daß man dem gegenüber an die Holz- und Lehmkate der
heimischen Urwälder gedacht hätte. Ein großer Teil der Germanen
siedelte sich ja auf dem Boden der fremden Rultur an. Wenn ihre
Fürsten sich feste Sitze bauten, so richteten sie sich nach dem auf das
castrum (Lager) zurückgehenden römischen Palast, wie uns die Reste
von Theoderichs^) Bauten in Verona, Ravenna, bei Terracina mnd
Spoleto beweisen. An dem in Ravenna errichteten Grabmonumente
Theoderichs sieht man wohl, daß der oströmische Zentralbau über-
nommen wurde, aber man ahnt nur aus wenigen Zügen ganz leise,
1) Rönig der Gstgoten (493—526), der erste deutsche Kürst, der eine
Zusammenfassung der germanischen Stämme anstrebte.