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Der dorische Baustil.

Der lange Streit, ob die Formen des dorischen Steinbaues aus
einem früheren Holzbau zu erklären seien, ist durch das Erscheinen
der „Tektonik der Hellenen“ in eine neue Entwickelungsstufe
getreten. Seitdem uns Boetticher durch sein Werk das „Princip
der hellenischen Kunstformenbildung“ erschlossen hat, ist
diese von Vitruv angeregte Streitfrage auf andre Grundlagen ge-
stellt worden.
Die Eichenholzsäule im Tempel der Hera in Olympia, die
als Überbleibsel eines älteren Baues in den neuen herübergenom-
men und als Gebälkstütze im Hintergemache dieses dorischen
Peripteros verwendet war, wo sie Pausanias im zweiten Jahr-
hundert nach Chr. noch sah, ferner das aus Eichenholz gezim-
merte Heiligtlium des Poseidon Hippios in Mantinea, das der Sage
nach ebenfalls aus mythischer Zeit stammte und innerhalb eines
von Hadrian erbauten Tempels noch zu Pausanias Zeit erhalten
war, können ebensowenig wie andere von dem genannten Schrift-
steller erwähnte alte Holzbauten oder Ueberbleibsel derselben die
Herleitung der Kunstformen des dorischen Steinbaues aus einem
älteren Holzbau rechtfertigen und begründen.
Freilich liegt die Vermuthung nahe, dass die Griechen ihre
Tempel in ältester Zeit aus Holz gebaut haben. Pausanias bestätigt
diese Vermuthung, indem er berichtet, dass das dorische Stamm-
heiligthum, der Tempel des Apollo in Delphi, in ältester Zeit der
Sage nach eine aus Lorbeerzweigen bereitete Flütte oder ein Zelt
gewesen sei. Bei einer derartigen Bildung eines Heilig-
thums kann aber an das Vorkommen baulicher Kunstformen, wenig-
stens solcher, wie wir sie aus den Resten dorischer Tempelbauten
kennen lernen, nicht gedacht werden. Sobald der dorische Volks-
stamm bis zur Herstellung dieser baulichen Kunstformen vorge-
drungenwar, wird er sie einzig und allein im Dienste des Cultus
und zu einer künstlerischen Gestaltung des Tempels verwendet
haben.
Diese Bildung baulicher Kunstformen wie die genannten ist
aber insofern für Holz wie für Stein eine gleichmässige, als das
Princip und Gesetz dieser Bildung für jedes Baumaterial dasselbe
ist. Durch die Verschiedenheit des Baustoffes erleiden jene Kunst-
formen keine wesentliche Veränderung. Die statisch wirksamen
Kernformen der Bauglieder werden aber allerdings bei verschiede-
nem Baustoff nach ihren körperlichen Abmessungen verschieden
sein müssen; es wird ferner die Verschiedenheit des Baustoffes
eine Verschiedenheit in der mechanischen Zusammenfügung dieser
Bauglieder bedingen, die Verschiedenheit dieser letzteren wird auch
eine verschiedene structive Form des Baugliedes, eine andere für
Holz, eine andere für Stein hervorrufen, aber Bauglieder von glei-
cher Bestimmung werden immer eine gleichartige, um nicht zu sagen
dieselbe Kunstform haben müssen. Zum künstlerischen Ausdruck
dieser Bestimmung dienen dieselben Vorbilder, und gleichartige Orna-

mente werden an den gleichartigen Bau gliedern erscheinen, mögen
die letzteren nun aus Holz, aus Stein oder gar aus Metall gebildet
worden sein. Nur die technische Herstellung dieser Ornamente
kann bei verschiedenem Baustoff verschieden sein. Die Kunstform
des Baugliedes selber ist davon unabhängig und erleidet keine
Aenderung.
Der dorische Baustil, wie er uns in den erhaltenen Bau-
denkmälern vorliegt, ist in seinen Formen erst dann zu begreifen,
wenn wir neben ihm einen älteren, ursprünglichen dorischen Bau
annehmen. Die vorhandenen Baudenkmäler geben uns diesen nicht.
Das lässt sich theils aus einigen Constructionen derselben, theils
aus alten Ueberlieferungen, endlich aus einigen der Form und Art
der vorhandenen Bauglieder wenig entsprechenden Benennungen der-
selben schliessen. Wir können diese Benennungen uns erst dann
erklären, wenn wir sie als charakteristische Bezeichnungen bau-
licher Glieder einer älteren, aber später verlassenen Constructions-
weise betrachten.
In den auf uns gekommenen Baudenkmälern dorischen Stiles
sehen wir den Architrav nur mittelbar seine bauliche Bestimmung
erfüllen; er nimmt nicht unmittelbar die Deckenbalken auf, ob-
gleich er zu deren Auflagerung — nächst seinem Zwecke die
Stützen der Traufe aufzunehmen — mit bestimmt ist. Wir finden
in den dorischen Bauwerken die Deckenbalken erst etwa in der
Höhe des „Geisons“, d. h. der hängenden Platte des Kranzgesimses
aufgelagert, die steinerne Decke selber also, ihre Balken mit ein-
geschlossen, zu einer Höhe oder Dicke zusammengeschrumpft, die
etwa der des Kranzgesimses gleichkommt. Eine solche Construc-
tion kann keine ursprüngliche sein; für eine Decke von so ge-
ringer Dicke und deshalb auch von verhältnissmässig geringem
Gewicht hätte es weder so starker Träger, wie die dorischen Säulen-
balken, noch so starker Stützen bedurft, als es die dorischen Säulen
sind. Es ist klar, dass nur eine schwer wuchtende Decke die
stämmigen gedrungen Säulen des dorischen Baues, die noch dazu
nahe bei einander gestellt sind, zu erklären vermag. Wir werden
deshalb annehmen müssen, dass bei der ursprünglichen Construc-
tion der dorischen Tempeldecke die Decktafeln breiter gespannt
und deshalb auch dicker gewesen sein müssen als bei den späteren
Bauwerken dorischen Stils; aus diesem Grunde werden wir auch
die Deckenbalken, als Träger dieser breiteren und schwereren Deck-
tafeln, von grösserem Querschnitt und in breiteren Abständen von
einander gelegt, als die Baudenkmäler es zeigen, vorauszusetzen
haben. Die Balkendecke im ganzen wird demgemäss in Ueberein-
stimmung mit ihrer grösseren Dicke auch eine schwerere gewesen
sein. Dieses musste dann natürlich auf die Abmessungen der unter-
sten Träger der Decke, auf die Architrave einwirken, die in
schwebender Lage von Säule zu Säule gespannt die ganze Last
der Decke und des Kranzgesimses zu tragen haben. Diese Archi-
 
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