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Meggendorfer-Blätter — 58.1904 (Nr. 706-718)

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Nr. 711
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Meggendorfer-Blätter, München


(bei der Prüfung): „Kolumbus — Kolumbus fuhr nach Amerika und
entdeckte Westen I"


Ich bemerke hier, daß der Mensch, und sei es auch der
beste, von Selbstsucht und Falschheit nicht frei ist. Ls ist eine
Schande und ein Jammer, aber wer soll das ändern? Ich
bekenne mich wenigstens schuldig, bevor ich es noch bin.
Berta sitzt, mit beiden Händen den Kopf haltend, über
einem Manuskript und memoriert ihre Rolle. Sie spielt die
Elsa von Lobenstein — er den Ferdinand von Trostbruck —
Lustspiel in einem Auszug vom Vereinsdichter Rechtsanwalt
Müller XI.; dieser elfte Müller ist ein bekanntes Talent, ein
verbissener Junggeselle, der Gelegenheitsstücke für Bekannte
schreibt, die ihre Töchter zu verheiraten wünschen. Lin Lhestifter
aus Bosheit, eine Kraft, die das Böse will und Gutes schafft,
s. Dezember.
In seinem neuesten Stück kommt eine raffinierte Liebes-
szene vor. Er, der Ferdinand, überrascht sie, die Llse, mit
einer sehr heißen Liebeserklärung, sie gibt ihm zuerst eine gut-
gemeinte (Ohrfeige, anstatt aber die nie wiederkehrende Gelegen-
heit zu benützen und zu erklären, er wünsche nicht in ein
schlagendes Korps einzutreten, bittet er um Verzeihung und sie
ist dadurch so gerührt, daß sie einer dauernden Befestigung
dieses Verhältnisses nicht abgeneigt scheint und ihn küßt.
Ich habe diese einfache Rolle sofort auswendig gewußt.
Berta aber verwechselt beständig ihre drei Punkte. Sie findet

weder Methode in diesem „Wahnsinn", noch
irgend eine Logik und erklärte von vornherein,
daß sie ihren Gegenspieler nie küssen werde. Erstens
könne sie das nicht, zweitens halte sie es für un-
schicklich und drittens pflegten auch die Chinesen
nicht zu küssen, ein Umstand, der sie von jeher von
der hohen Kulturstufe dieses Volks überzeugt habe.
Ich sage gar nichts — ich lächle nur.
Nachtrag: Heute abend war die erste Probe.
Ls war zum Schießen I Mama schien außer sich.
Berta glich einem trepanierten (Opferlamm. Alles
Reden half nichts, denn sie war nicht dazu zu
bringen, den Kuß zu markieren. Endlich, als
Mama sehr deutlich wurde, weil alle Anwesenden
Wonnetränen weinten, umarmte sie ihn und
drückte einen heißen Kuß auf seinen tadellosen
Hemdkragen. Tableaul
Mama ist wütend, der Doktor tief gekränkt, die
Vorstellung, die übermorgen sein soll, unmöglich.
Große Aufregung, was wird nun geschehen?
Berta heult bis zum Einschlafen und bekennt
freimütig, äußerst beschränkt zu sein. Gottlob,
fünfzehn Jahre lang hat sie es mir nicht glauben
wollen!
s. Dezember.
Mama geht um zehn Uhr zum Vorstand der
Melpomene, um sich wegen Berta zu entschuldigen.
Sie hat zuerst mit mir konferiert, ob ich nicht etwa
geneigt wäre, einzusxringen.
Denke nicht daran, von Herrschaften abgelegte
Doktoren zu küssen. Bin auch viel zu stolz, um
auch nur den Anschein zu erregen, als machte ich
meiner Schwester Konkurrenz.
Um elf Uhr gibt der Doktor seine Karte ab.
Ich lasse ihn bitten.
Er ist sehr feierlich. Spricht von gestern, sagt, er
begreife nicht recht, womit er die Blamage, die ihm
das gnädige Fräulein bereitet habe, verdient hätte.
Fragt mich, ob er denn wirklich ein solches un-
appetitliches Scheusal sei, daß der Gedanke, seine
Wange zu küssen, einen unwiderstehlichen Abscheu erregen müsse.
Ich erröte, denn man muß doch zugeben, daß das eine kitzliche
Frage ist, die leicht zu Irrungen führen kann. Kaum gedacht,
schon geschehen. Er mißdeutet meine Verlegenheit und erlaubt
sich allerdings mit einer sehr bescheidenen demütigen Miene, mich
nochmals zu fragen, ob ich auch der Meinung sei, daß ich zurück-
schaudern würde. Ich werde immer röter, mein Herz fängt an
zu klopfen, aber ich finde im Moment meine Geistesgegenwart
wieder. Setze ihm also ganz kühl und verständig auseinander,
daß Berta eine sehr scheue und schwerfällige Art habe, auch
ganz gewiß nicht daran gedacht habe, ihn zu beleidigen.
Er scheint mir Glauben zu schenken, denkt eine Meile nach,
dann sieht er mich teils forschend, teils stark verliebt an. Mein
weibliches Feingefühl sagt mir, daß er am Sprunge sei, zur
Attacke zu schreiten, sich aber nicht recht traue, einen entscheidenden
Schritt zu tun. Da hat er auch ganz recht, denn ich fühle mich
fest und würde ihn unter allen Umständen abblitzen lassen, ob-
wohl er mir sehr gut gefällt. Das bin ich meiner Schwester
schuldig. Er merkt das auch und leistet sich in der Verlegen-
heit lächelnd ein gänzlich verunglücktes Kompliment.
Bevor ich ihm dafür danken kann, tritt Berta in das Zim-
mer. Sie ist noch um einige Grade steifer als sonst, entschuldigt
sich mit allerlei Sprüchen, von denen jeder eine versteckte
Beleidigung enthält, die merkwürdigerweise den armen Doktor
 
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