M e g g e n d o r f e r-B l ä t t e r, München
Der Psychiater.
1/^arl Anton Mayer, Professor der Psychiatrie an einer
I kleinen Universität, war ein glänzender, wenn auch
stiller Gelehrter und daher von namenloser Berühmtheit.
Vbwohl in dein kleinen, von einer guten Spießbürgerlichkeit
regierten Städtchen niemand Aussicht hatte, verrückt zu werden,
tröstete sich doch jeder, der einmal einen abnormen Ueberschuß
von Gedanken in seinem Kopfe fühlte, daß im ärgsten Falle Pro-
fessor Karl Anton Mayer ihm in sachkundiger Meise beispringen
werde. So wirkte also schon die bloße Anwesenheit des ausge-
zeichneten Mannes beruhigend auf die Gemüter der Bürgerschaft.
Da geschah
eines Tages das
Unglaubliche:
Professor Mayer
wurde selbst ver-
rückt. Es war
keine Täuschung
oder ein boshaft
ausgesprengtes
Gerücht miß-
günstiger Kolle-
gen, sondern be-
wiesene Tatsache.
Zahlreiche Vor-
fälle, die sich so-
zusagen direkt
unter den Augen
der ganzen Ein-
wohnerschaft ab-
spielten, gaben
unwiderlegliches
; 6err Karl Anton
spazieren und sieht
einen Mann, dessen Stiefel mehr elegant als bequem gearbeitet
sind. Mit treuherziger Miene schreitet er auf den Ahnungs-
losen zu und tritt ihm mit einem Gewicht von hundertfüufzig
Pfund auf den Fuß.
„A—a—a—au I" schreit der Mißhandelte und ringt nach Luft.
„Aha," sagt Karl Anton Mayer, während er ihn scharf
mustert, „echte Symptome des normalen, momentanen Schmerzes,
hochgezogene Augenbrauen, Furchen an den Nasenflügeln — ."
„Donnerwetter, Sie ungeschickter Mensch I" räsoniert jetzt
der Mann, nachdem er wieder zu Atem gekommen ist, „was
fällt Ihnen denn ein? Wenn Sie nicht ein alter Herr wären,
ich würde Ihnen einen Denkzettel geben, daß Sie-."
„G, gut, sehr gut!" murmelt befriedigt Karl Anton Mayer,
„Mutanfall, geballte Faust, rollende Augen — alles in Vrdnungl"
„Narr, kompletterI" repliziert der verwundete Hühneraugen-
befitzer und geht mit verächtlicher Miene weiter.
„Verachtung!" konstatiert Mayer, „höhnisch verzogene Mund-
winkel, Blick von oben herab — stimmt aufs Haar!"
Dann schreitet er, nachdenklichen Blickes, die Hände auf
dem Rücken, in entgegengesetzter Richtung davon, ohne sich um
die verwunderten Kommentare der Passanten zu kümmern.
Nach einigen Tagen kommt der Schneider mit der Jahres-
rechnung, die infolge der hosenzerreißenden Nachkommenschaft
ein hübsches Sümmchen repräsentiert. Sie ist immer anstandslos
honoriert worden, doch heute klopft ihm der Professor verlegen
lächelnd auf die Schulter und sagt: „Ja, mein lieber Meister,
ich habe diesmal kein Geld und kann Ihnen darum die Rechnung
nicht bezahlen."
Der Schneider, der sicher auf das Geld gerechnet hatte,
wird abwechselnd blaß und rot.
„Aber," stottert er in schmerzlicher Enttäuschung hervor,
„wovon soll ich nun meine Schulden bezahlen?"
„So ist's recht," triumphiert der Professor, „Kummer! Herab-
gezogene Mundwinkel, tiefe Falten zwischen den Brauen, Ver-
zerrung der ganzen Gesichtsmuskulatur-
Eine Weile bleibt Herr Karl Anton Mayer versunken in
das Studium seines Dbjektes stehen, dann geht er an den
Schreibtisch, nimmt einige blaue Scheine heraus und überreicht
sie dem verblüfften Meister. Dieser fällt sofort ins andere
Extrem und ein Jubelruf entringt sich seiner befreiten Brust.
Mayer aber sagt bloß: „Freude! Leuchtendes Gesicht, weit
geöffnete Augen, daher glänzend!"
Der überglückliche Schneider erzählt dieses kleine Intermezzo
als einen köstlichen Scherz des gelehrten Herrn, aber dem wider-
spricht ganz energisch der Friseur, als er sich am Abend bei
der Stammtischrunde einfindet.
„Einen Scherz nennen Sie das?" eifert er. „Nun, meinet-
wegen! Aber hören Sie, meine Herren, was mir heute nach-
mittag passiert ist. So gegen vier Uhr kommt also der Herr
Professor Mayer zu mir in den Laden und verlangt, ich solle
ihm den Schädel nach Lhinesenart ratzekahl rasieren. Ich meine,
falsch gehört zu haben und starre den Professor ganz perplex
an, indem ich stotternd frage: den Kopf?
Statt aller Antwort sieht mich der Mann mit einem Lächeln
an, so eigen, sage ich Ihnen, wie eben nur verrückte lächeln
können. Dann murmelt er in den Bart: ,Zeichen grenzenlosen
Erstaunens re? Als ob das nicht selbstverständlich wäre bei
solch einem unchristlichen Verlangen. Plötzlich aber ergreift er
ein scharfgeschliffenes Rasiermesser, stürzt auf mich zu und
schreit: ,Scheren Sie mir den Kopf, oder — b
Ich bitte Sie, meine Herren, was hätten Sie in einer
solchen Situation getan. Ein jeder hängt an seinem bißchen
Leben und so ein Irrsinniger hat ja Riesenkräfte! Ich glaube,
ich bin ihm sogar zu Füßen gefallen in meiner Todesangst,
plötzlich aber ändert der Professor sein Benehmen; er wird
ganz ruhig, nickt mit dem Kopfe und notiert sich etwas in sein
Taschenbuch, dann setzt er sich nieder und läßt sich den Bart
ein wenig stutzen. Nun sagen Sie selbst, meine Herren, ob
das noch Scherze sind. Nein, ich bleibe dabei, der Mann ist
übergeschnappt l"
Und der Friseur behielt recht. Und auch die Zweifler
sollten bald davon überzeugt werden. Denn einige Tage darauf
vergaß der Professor seine Würde als Gelehrter und Familien¬
vater so weit, daß er sich auf öffentlichem Markte neben eine
Hökerin setzte und mit ihr zu scharmieren anfing. Er wurde
Zeugnis dafür. So geht z. B. eines Tage
Mayer in der Hauptstraße des Städtchens