Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Meggendorfers humoristische Blätter: Zeitschr. für Humor u. Kunst — 46.1901 (Nr. 549-561)

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.16556#0014
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Meggendorfers Hurnoristische Blätter.

lv

Da nun tVilhelm seine Schwester seit dem neunten
Iahre nicht mehr gesehen hatte, ist es begreistich,
daß er sich nicht recht vorstellen konnte, wie sie sich
seither entwickelt haben mochte, und so schwankte
er bei dem bevorstehenden wiedersehen zwischen
Furcht und ksoffnung.

Inzwischen nahte sich der Zug, mit der üblichen verspätung
belastet, der Station kserbrechtingen. In einem der langen, über-
füllten Durchgangswagen saß eine ältere Dame mit freundlichem
Gesichtsausdruck und betrachtete wohlgesällig ein ihr gegen-
übersitzendes junges Mädchen. Men hätte sie auch sonst
betrachten sollen? Unter den vielen Insassen des wagens be-
fand sich sonst keine Sehenswürdigkeit. Aber auch unter einer
ganzen Auswahl hübscher Gesichter wäre gewiß das Antlitz der
jugendlichen Schönen mit dem seideglänzenden, kastanienbraunen
ksaar aufgefallen: schon die Dicke und Länge des prächtigen
Zopfes mußte Aufsehen erregen; wer aber dieses rosige Gesicht-
chen anschaute mit seinen reizenden, harmonischen und doch nicht
klassisch scharfen Formen, — alles anmutig, weich und wohlge-
rundet, — wer die großen Rehaugen unter den schattigen
wimpern hervorlachen sah, wer die seuchtroten Lixxen einer
xhilosophischen Betrachtung unterzog, zu welcher sie geradezu
herausforderten, — der mußte sich wohl vom platonischen
Standxunkt zum epikureischen bekehren: denn solche Schönheit
lud weniger zum Anschmachten, als zum sröhlichen Genießen ein.

Dem Zauber solcher Lieblichkeit konnte sich selbst ein älteres
Damenherz nicht verschließen, zumal kindliche Unschuld und
liebenswürdige kseiterkeit wie Sonnenschein aus diesem Aus-
nahmsgesichtchen jedermann entgegenleuchteten.

chreilich war sich die kleine Fee ihres Zaubers nicht bewußt:
ste ahnte nicht, welch gefährliche Folgen sür sie und andere ihre
einschmeichelnden Reize haben konnten. von ihrer würdigen
Nachbarin hatle sie indes auch nichts zu befürchten.

„kserbrechtingen I" rief in diesem Augenblick die schnarrende
Stimme des wagenthüraufreißenden Schaffners.

„lvas?> schon dal" rief das junge Mädchen, rasch empor-
springend, und die anmutige Gestalt streckte sich, um das ksand-
gepäck aus dem Netze zu heben.

„ksalt, mein Fräuleinl" rief die freundliche alte Dame
lächelnd, „Sie lassen sich durch die Aehnlichkeit der Stations-
namen täuschen: kserbertingen und kserbrechtingen klingen zwar
aus dem Nunde eines Schaffners fast gleich, sind aber in wirklich-
keit grundverschieden: Sie haben noch eine gute Strecke zu sahren."

Lnttäuscht und nur halb überzeugt ließ sich die Schöne
zögernd wieder auf ihren Sitz hernieder und schaute ängstlichen
Blicks zum lVagenfenster hinaus, ob nicht doch jemand da sei,
der sie erwartete.

Der perron war jedoch leer; denn als nicht gleich jemand
ausstieg, war der junge Doktor eingestiegen, um rasch die lvagen
zu durcheilen: wie leicht konnte ein unerfahrenes Mädchen, dem
der Fahrxlan nicht geläusig war, über die Bestimmungsstation
hinausfahren! Da der Zug nur wenig Aufenthalt hatte, konnte
er die zahlreichen Reisenden nur einer stüchtigen Musterung
unterziehen; doch sah er kein junges Mädchen, das er für seine
Schwester zu halten geneigt gewesen wäre, bis er endlich im

letzten lvagen das reizende Geschöpf erblickte, mit
dem wir uns schon befreundeten. Das Mädchen fühlte
seine entzückten Blicke auf sich ruhen und wandte sich
vom Fenster ab ihm zu, sofort aber drehte sich das
errötete Gesichtchen wieder nach dem Fenster.

„Llse?I" rief nun lvilhelm halblaut.

Da fuhr sie herum, sprang auf, sah ihn verwundert an und
brach in die wunderbaren lvorte aus: „Ia bist denn du das?"

Da lachte er: „Natürlich bin ich'sl" und er umarmte und
küßte die gefundene Schwester herzlich, wobei ihn ein eigen-
tümlich wonniges Gefühl durchrieselte, zumal als sie seinen Kuß
schüchtern erwiderte.

„Nun aber heißt es rasch aussteigen l" rief der junge Mann,
„sonst entführt uns der Zug bis zur nächsten Station." Rasch
bemächtigte er sich des ksandgepäcks und schritt voran. Else
nickte ihrer Reisegefährtin noch freundlich zu und folgte ihm
leichten Schrittes. Raum waren sie ausgestiegen, so setzte sich
der Zug wieder in Bewegung.

„ksör' einmall Du bist aber schön geworden!" sagte lvilhelm
draußen, seine liebreizende Schwester mit unverhohlener Bewunde-
rung betrachtend: „Das hätte ich doch nicht für möglich gehaltenl"

„So, so," lachte Llse. „Sah ich denn als Rind so wenig-
versxrechend aus?"

„Das will ich nicht behaupten: aber daß du dich zu einer
solch außerordentlichen Schönheit entwickeln würdest, ließ ich mir
nicht träumenl"

Llse erglühte wieder: „Du bist einmal ein Schmeichlerl
Uebrigens kann ich dein Romxliment erwidern: ich bin über
dein jugendliches Aussehen überrascht; ich habe dich mir viel
gesetzter vorgestellt!"

„Nal Das soll nun ein Rompliment seinl Ihr jungen
Mädels seid aber köstlich: meint ihr, sobald man philister sei,
müsse man graue ksaare, einen Rahlkopf und ein bitterernstes
Gesicht haben I"

„Nun, das nicht gerade: aber für einen würdigen Familien-
vater siehst du noch merkwürdig forsch ausl"

„Ghol würdiger Familienvaterl Llse, Llse, was machst
du für schlechte witze l" rief wilhelm mit dem chinger drohend.

Else sah ihn befremdet an, lachte aber gleich wieder: „Sei
nur zufrieden, du gefällst mir um so besser, wenn es mit dem
würdigen Lrnst nicht so weit her ist: offen gestanden, mir war
etwas bange . . . ."

„Mir nämlich auch I Ietzt aber fühle ich eitel wonne l
Und du, Naus? he?I"

„Ich?I Nun ja, du gefällst mir ganz gutl"

„Also, dann werden wir ordentlich miteinander auskommen."

„Das hoffe ich auchl" erwiderte Llse.

Inzwischen hatten sie das Stationsgebäude umschritten und
warteten, bis die vom Zug ausgeladenen Güter in den Gepäck-
raum eingeführt wurden, damit Llse ihre Roffer auslösen könne.

Solche Arbeit geht auf einer kleinen Station gemütlich von
statten: kein Beamter war noch in den Innenräumen zu erblicken.

„Denke dir," sagte Llse, „beinahe wäre ich weiter gefahren,
weil eine alte Dame mir sagte, ich verwechsle kserbrechtingen
und kserbertingen."
 
Annotationen