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Lothar Meggendorfers humoristische Blätter — 4.1891 (Nr. 1-13)

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https://doi.org/10.11588/diglit.20269#0016
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L. Meggendorfers Humoristifche Blätter.

P

Das Spiegelbild.

Zchwierigkeiten zu überwinden. — Von dieser zwei-
deutigen Antwort wenig erbaut, kehrten beide
Hrauen, ohne fich im Tempel gesehen zu haben, aus
verschiedenen Wegen nach Hause zuriick; sie befanden
sich in größerer Verlegenheit als zuvor.

Lines Tages begab es sich, daß Iu-Kiouan ge-
rade uin dieselbe Zeit, sich aus die Balustrade des
in den Lee hinausgehenden Valkons stützend, in das
Alasser blickte, als Cchin-Sing aus der anderen Aeite
der kNaucr dasselbe that.

Tas kvetter war sehr schön, kein Wölkchen zeigte
sich am khimmel; nicht die winzigste Kalte kräuselte
die Tberfläche des See's. —

In Tinnen verloreu schaute Iu-Riouan dem
kzaschcn der Hische zu, als sie plötzlich ein herrliches
Landschastsbild — nur alles auf den lkops gestellt —
im Wasserspiegel erscheinen sah. Lie hatte dieses
Spiel, welches sie so sehr entzückte wie überraschte,
nie früher beachtet; jetzt interessierte es sie jedoch
umsomehr, da ein Blick auf die Nachbarmauer und
die unbekannten Baumgruppen iin Bilde des Lee's
sie belehrte, daß sie hier eine Abbildung des Nachbar-
gartens erschaue, welche durch den Baum zwischen
ksolzwand und Wasserspiegel sich hindurch gedrängt.
Ihr Lrstauncn wuchs, da sich im Masserbilde auch ein
Balkon zeigte, ganz wie der eigene und auf diesem
gelehnt in einer ähnlichcn Ztellung, als sie selbst
cinnahm, eine Testalt. Tchin-Bing's Bchatten war
vor ihr Auge getreten. kkkan dars sich nicht darüber
wundern, daß Iu-!<iouan in dem Bchatten ein Mäd-
chen zu sehen wähnte, da Lchin-Sing noch sehr
jung und bartlos war. Aebrigens währte diese
Täuschung nur kurze Zeit, denn Iu-Aiouan erkannte
sehr bald an dem Pulsschlage ihres Herzens, daß
ihr der Zee nicht das Bild einer jungen Genossin
vorgaukele.

Bisher wähnte sie, die Lrde trage kein A)esen,
welches sür sie geschasfen sei und oft wünschte sic
eines der Pserde Kargana's zu ihrer Verfügung, um
dies ersehnte Ltwas im unendlichen Raume zu sucheir

Beim Lrblicken dieses Lchattens im Wasser be-
griff sie, daß ihre Lchönheit eine Achwester oder
vielmehr einen Bruder habe. Weit entfernt, sich
darüber zu ärgern, sühlte sie sich glücklich; der Lhr-
geiz, sich ohne ihresgleichen zu wähnen, räumte
schleunigst der Liebe das Held, denn von diesem
Augenblicke an war das Herz Iu-Riouan's auf ewig
gebunden. Lin einziger Blick — sogar nicht einmal
direkt, sondern nur durch den Reflex — hatte ge-
nügt, um dies Wunder zu vollbringen.

Auch Tchin-Bing bemerkte die nachbarliche,
wunderbare Zchönheit. „Zpiegclt sich mir cin Craum
vor bei offenen Augen?" rief er. „Dies reizende
Wesen, welches unter dem wafferkrystall funkelt,
muß seine Lntstehung den silberncn Nondesstrahlen
einer lauen Hrühlingsnacht und dem süßen Blumen-
duft verdanken. Vbgleich ich sie nie sah, so crkennc
ich sie doch: das Lbenbild, welches in meine Beele
gegraben ist, die schöne llnbekannte, welcher ich
meine Tichtungen widme."

Äo weit war Tchin-Bing mit seinem Akonolog
gekommen, als des Vaters Äimme ihn rief.

„Lieber Zohn," sprach Papa llang, „mein Hreund
Lhan-lloo ist gekommen, Tir eine sehr reiche, in
jeder Bcziehung vorteilhafte Partie vorzuschlagen.
Lin Nädchen, schön, verständig, in deren Adern
kaiserliches Blut sließt, und im Besitze aller Ligen-
schasten, um einen Nann glücklich zu niachen.

Tchin-Ling, ganz beschäftigt mit seiuem Abcn-
teuer und voll Liebe entbrannt für das im Wasser
erblickte Bild, wies den Vater kurz ab.

„V du ungeratener Lohn," siel dieser über ihn
her, „wenn Tu bei Teiner ewigen Weigerung be-
harrst, laffe ich Tich in eine Kestung sperren, wo
Du nichts siehst als vom Meere umspülte Helsen;
dort stndest Tu Zeit zum Aachdenken und zur Aeue."

Tiese Drohungen erschreckten Tchin-Sing wenig;
er antwortete, daß er die nächste ihm vorgeschlagene
Tattin annehme, nur dürfe es nicht die heutige sein.

Am anderen Tage begab er sich zur selbeu
Ltunde wieder auf den Balkon und lehnte sich wieder
ebenso über die Balustrade.

llach wenigen Minuten sah er auf dem Wasser-
spiegel das Bild Iu-lliouan's wie ein Bouquet von
uuter dem Wasser blühenden Blumen erscheinen. Der
junge Nann drückte die eine Hand auf seiu Herz
und mit den Kingerspitzen der anderen sendete cr
dem Reflex graziöse und zugleich leidenschaftlichc

Läffe.

Lin sreundliches Lächeln zeigtc sich in der
Wassererscheinung und diente Lchin-Sing als
Beweis, daß er der schönen llnbekannten nicht
unangenehm sei. T>a man sich mit einem Schat-
ten aus die Dauer jedoch nicht unterhalten kann,
so gab Tchin-Sing zu verstehen, daß er schreiben
wolle. Lr trat von der Balustrade zurück, zog
aus seinem llleide ein versilbertes, mit bunten
^arben geschmücktes papier, auf welches er einc
seurigc Liebeserklärnng in Bersen von sieben
Silben improvisiert hatte. Dann schritt er wie-
der vor, hob seinen Papyrus in die Höhe, be-
rührte denselben mit der äußeren Spitze seiner
Lippen und rollte ihn zusammen; darauf ver-
 
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