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Meier-Graefe, Julius
Paul Cézanne: mit 54 Abb — Muenchen, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.29658#0041
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unterdrückt und den prangenden Leib der Badenden wie eine
barocke Riesenperle in einem Schrein von Juwelen darbietet.
Waren solche Kleinodien damals, in einer Zeit von straffen Tradi-
tionen, leichter zu würdigen als heute die Pracht eines Cezanne?
Hat der Tintoretto, der in Venedig statt mit den angenehmen
Frauen und Männern der Tizian und Veronese mit Flammen von
Farbe dekorierte, weniger gewagt als unser Zeitgenosse?

Wem der Sprung zu groß ist, der findet in Greco ein
elastisches Sprungbrett. Ich weiß nicht, ob selbst heute Greco
im Publikum einen gesicherteren Ruf genießt, als der vor kurzem
verstorbene Moderne. Er war der Vorgänger Cezannes als Träger
des Ehrentitels eines Verrückten, war verschlossen wie dieser und
kannte gleich wenig die Wohltat öffentlicher Geltung, war alles in
allem unserem Zeitgenossen so verblüffend ähnlich, daß man ver-
sucht ist, alles, was über die Eigenheit unserer Epoche gesagt ist,
zurückzunehmen und den Selbständigsten unserer Zeit zu den un-
mittelbaren Nachfolgern Grecos zu rechnen. Es ist derselbe Geist,
dasselbe Temperament, dieselbe Anschauung. Die Beziehung
Cezannes zu Tintoretto erfolgt aus kühlen Spekulationen der Ent-
wicklungsgeschichte, und wir verhehlen uns nicht die Bedingtheit
des Nachweises. Wir sehen einen Teil der Ähnlichkeit in die
Objekte hinein oder übertragen summarische Erkenntnisse, weil
uns andere Quellen der Bestimmung des Charakteristischen fehlen.
Wir würden uns vielleicht unserer Voreiligkeit schämen, wäre unser
Vermögen, Kunstwerte darzustellen, reifer. Bei Greco und Cezanne
treten unwiderrufliche Momente hinzu, die in dem Verhältnis
Cezannes zu seinen Zeitgenossen nicht gefunden werden. Greco
hat Fragmente von Kompositionen bewegter nackter Körper hinter-
lassen, die Cezanne in einer uns unbekannten Periode geschaffen
haben könnte, von derselben Gewalt des Ausdrucks bei ebenso
geringer Körperlichkeit der Einzelheit. Selbst die vollendeten
Werke, wie die „Bestattung des Grafen d’Orgaz“, wirken in der
Hauptsache wie Flächen Cezannes, auch wenn das Auge nach und
nach einen unübersehbaren Reichtum von Details entdeckt. Der
Prunk der Kostüme wird von den entscheidenden Farben so über-
strahlt, daß man ihn sich ohne Mühe wegdenken kann, und selbst
in dem Prunk, wo man es am wenigsten vermutet, wie in der
Enthauptung, die in der „Bestattung des Grafen d’Orgaz“ in das

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