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Mengs, Anton Raphael; Schilling, Gustav [Editor]
Anton Raphael Mengs' Sämmtliche hinterlassene Schriften (Band 2) — 1844

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https://doi.org/10.11588/diglit.6324#0025
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— 19 —

Aus diesem Grunde finden sich auch viele Linienabschnitte in
den Verkürzungen, weil alle erhabene Formen die eingebogenen ver-
bergen oder verringern. Einsichtsvolle Maler suchen daher die Ver-
kürzungen an reizenden Gegenstanden nach Kräften zu vermeiden,
oder bringen sie dieselben doch immer so klein als möglich und nur
im höchsten Nothfalle au. Da wo der Charakter ein harter ist, der
eines starken Ausdrucks bedarf, und wo ein veränderter Styl ange-
bracht werden soll, bedient man sich ihrer hingegen mit Vortheil;
dasselbe geschieht in den Fällen , w o sich Winkel bilden und ein
Glied das andere abschneidet. Man muss dabei jedoch genau Acht
haben darauf, wo die Linie abgeschnitten wird, denn wird jenes
Glied, das sich hinter dem andern verbirgt, gerade am Anfang seiner
Erhebung durchkreuzt, so beleidigt dies das Auge, indem die Linien
dadurch sich gewissermaassen widerstreiten, weil die eine sich von
aussen, die andere von innen zeigt. Kann ein solches Zusammen-
treffen der Linien nicht füglich vermieden werden, so muss man sich
dadurch zu helfen suchen, dass man einen Theil des Gewandes da-
zwischen schiebt, oder den Abschnitt in dem geraderen Theile des
zu verbergenden Gliedes macht; und sollte auch dieses Mittel nicht
ausreichen, die Wirkung zu verschönern, so trage man wenigstens
Sorge, dass der Abschnitt dahin fällt, wo die krumme Linie am
grossesten ist, weil sich alsdann auf der andern Seite die nämliche
Art von Linien bildet.

Ich sagte früher, der Maler müsse vollkommen geometrische
Figuren vermeiden; desslialb darf er denn, so oft eine winklichtc
Form vorkommt, die Linien auch nicht ganz in ihrem Winkel zusam-
menstossen lassen, sondern muss sie an ihren Enden etwas abrunden;
nur auf diese Art wird dem Auge die Mannigfaltigkeit gewährt,
worauf der grosseste Theil der Grazie beruht. Bei runden Formen
können dadurch Veränderungen angebracht werden, dass man einige
gerade, flache Biegungen macht und die Linien wellenförmig zieht.
Ueberhaupt muss stets von dem Grundsätze ausgegangen werden,
keine Figur vollkommen winklicht oder vollkommen rund zu machen,
weil nichts in der Malerei die Augen mehr beleidigt als das Voll-
kommene in seinen Linien.

Diese Bemerkungen können am häufigsten an den Werken der-
jenigen Meister gemacht weiden, die am schönsten gezeichnet und
den besten Geschmack in der Zeichnung gehabt haben; Hierher
 
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