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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0437
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dadurch immer von neuem entstehenden selbständigen Stöcke, welche sich mit dem Mutterstocke ketten-
artig zusammenreihen, ergeben die, in gewissen Intervallen wiederkehrenden senkrechten Einschaltungen
zwischen den wagerechten Stengelausläufern und damit jene eigentümliche Kombination zweier Wuchs-
richtungen, welche im Schema des Anthemienbandes enthalten ist.
Dass die Phantasie des Künstlers durch derartige Wachstumsbilder stets unmittelbar beeinflusst
worden sei, können und sollen derartige Beispiele nicht beweisen, sie vermögen aber zu bestätigen,
dass sich die Ideen des Ornamentes, wie in Form so in Anordnung immer nur innerhalb der Grenzen
der geschauten Naturerscheinungen und ihrer Gestaltungsgesetze bewegen. Die Anregung, welche sie
dem technischen Künstler bieten, wird auch in unserer Zeit vorwiegend nur eine mittelbare, ihr Wert
darum aber nicht geringer sein. Dies schliesst nicht aus, dass neue Bedingungen der Kunst nicht auch
wirklich neue Formen aus der Natur entwickeln lassen können. So giebt z. B. gerade in Bezug auf die
pflanzliche Verzweigung die Anwendung unserer elektrotechnischen Erfindungen auf die Beleuchtungs-
geräte Gelegenheit, die Erscheinungen der natürlichen Blütenstände in ungebundener und eigenartiger
Weise zu nutzen. Durch die Beseitigung des Zwanges vertikaler Stellung der Lichtquellen, welchen
die Kerzen- und Gasflamme in sich schliesst und durch die Eigenschaften des elektrischen Lichtes an
sich, ist dem Künstler in der Kurvenanordnung der Leuchterarme, in der Richtung des Lichtträgers und
in der unmittelbaren Verwertung vieler Blütenstandserscheinungen eine Freiheit der Bewegung gelassen,
welche der stilistischen Umbildung von bisher nicht anwendbaren Pflanzenformen ein weites Feld öffnet.
Dieselbe Freiheit gewährt auf einem umfassenden Gebiete die unserer Zeit eigentümliche, ver-
mehrte Anwendung der Metalle (namentlich des Eisens) als baulicher Werkstoffe. Gestatten dieselben
schon infolge ihrer Behandlungsweise und der daraus sich ergebenden Zulässigkeit einer differenzirteren
Formensprache einen engeren Anschluss an die individuellen Erscheinungen der vegetabilen Welt,
welcher der Gerätbildung schon immer zu gute gekommen ist, so ermöglicht ihre Überlegenheit als
Baumaterial gegenüber dem Steine: ihre Fähigkeit in weit geringerem Massenumfange gleiche Kräfte
entfalten zu können, auch dem tektonischen Schaffen eine fortschreitende Aufnahme von natürlichen
Vorbildern, welche den kompakteren Kunstformen des Steinbaues unzugänglich waren. Können daher
in erster Linie alle stützenden und bindenden Glieder, für deren struktive und funktionelle Bedeutung-
der Hochbau bei Anwendung metallischer Werkstoffe neuer ornamentaler Ausdrucksmittel bedarf,
aus einem weiteren Kreise von Pflanzen sich Vorbilder wählen, deren feinere und bewegliche Formen
sich der Übertragung in den Stein entzogen, so können, wenn schon in bedingter Weise, auch die Auf-
gaben auf dem Gebiete des Ingenieurwesens der Gestaltungskraft des T echnikers Gelegenheit geben,
aus den Formerscheinungen der pflanzlichen Struktur mannigfache Anregungen zu ihrer künstlerischen
Lösung zu gewinnen.
Die Versuche zur Lösung derartiger Aufgaben, für welche die überlieferten Kunstformen
zutreffende Ausdrucksmittel versagen, werden das wirksamste Mittel bilden, den ornamentalen Ge-
staltungssinn unserer Zeit in eigene Bahnen zu lenken.
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Zu Vorwort Abt. VI.
 
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