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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0436
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getragenen Glieder vorwiegend auf den Bildern der Stengel-, Blumenstands- und Verzweigungsformen.
Spiegeln die durch Kapitelle abgeschlossenen Stützen der alten Welt in ihren Kunstformen den end-
ständigen Einzelblütenstand der Pflanze wieder, so basiert das System des Rippenüberganges der kapitell-
losen Pfeiler des Mittelalters auf Analogien, welche die pflanzliche Skelettverzweigung bietet.
Stilisierte die Antike bisweilen auch das zusammenhängende Bild der Pflanze, namentlich in
dekorativen Bauten, (wie z. B. in den Palmen, welche das Prunkzelt Alexander des Grossen trugen), so
finden sich alle Organe ihrer Schäfte und Blütenstände in ornamentalen Übertragungen an Basis, Schaft
und Kapitell in den Stützformen der Architektur und Kleinkunst wieder. Die architektonischen Per-
spektiven der uns noch erhaltenen dekorativen Malereien römischer Kunst, welche in vielen Fällen
auch die Bilder wirklicher Bauformen wiedergeben dürften, lassen erkennen, in welchem Umfange die
Antike von den Wachstumsbildern des Stengels und seiner Verzweigung Gebrauch machte. Die
gemalten Stützen der Wanddekorationen, wie wir sie auf dem Palatin, in dem römischen Hause der
Villa Farnesina und vielen pompejanischen Landhäusern sehen, die marmornen Schmuckkandelaber,
Stelen und Vasenfüsse der vatikanischen und neapolitanischen Museen geben allein genügende Bei-
spiele, wie alle Arten der Stengelgliederungen, Berippungen und Knotenbildungen, die schuppenartigen
Niederblätter, die stengelumfassenden Quirlstände und Blattscheiden, die Sprossanlagen, Stacheln,
Stipeln, Haftorgane und alle sonstigen dem Stengel eng verbundenen Hilfsglieder der Verzweigung für
den Schmuck der künstlerischen Schaftformen, zum Ausdruck ihrerRichtung und mechanischen Festigung
benutzt und zusammengereiht wurden. Selbst rein malerische Naturmotive, wie z. B. die spirale Um-
windung der Pflanzenstengel durch Schlinggewächse sind künstlerisch nutzbar gemacht, indem ihr Bild
als Reliefschmuck dem Säulenschaft aufgelegt, ihr Ursprung aber aus den Achseln der denselben um-
gebenden Deckblätter entwickelt wurde.
In welcher Weise die Stengelverzweigung und Knotenzone auch für die struktive Zusammen-
fügung der einzelnen Teile der Geräte und Gefässe diente, ist schon früher angedeutet worden. Dass
aber nicht bloss das Höh en Wachstum sondern auch gewisse horizontale Wuchserscheinungen der
Pflanze bestimmten Ornamentbildungen der Antike zu Grunde liegen, davon giebt unter Anderem das
Gestaltungsschema des Anthemienbandes ein Beispiel. Das Schema dieses Ornamenttypus besteht in
Reihungen von wagerecht verbundenen Rankeneinheiten, deren horizontale Wirkung durch die rhyth-
misch sich wiederholende Einfügung vertikaler Elemente: Palmetten oder Blüten gleichzeitig für den
Ausdruck einer senkrechten Richtung geeignet gemacht wird. In diesem Sinne wird das Anthemien-
band wie im Friese des Tempels, welcher die Glieder des ganzen Baues verbindet, so am Halse der
Säule und des Gefässes, als umspannendes Symbol angewendet, welches in seiner Bedeutung als hori-
zontales Band gleichzeitig den Ausdruck der Höhenrichtung des ganzen Baues oder des einzelnen Bau-
und Gefässgliedes zur Geltung bringt.
Dieses ornamentale Bild eines doppelten Richtungsausdruckes basiert, wenn auch in seiner
Form nicht direkt abgeleitet, doch ebenfalls auf der Anschauung vegetabiler Wuchserscheinungen. Ein
solches Wuchsschema zeigen z. B. horizontal kriechende Rhizome (Wurzelstöcke) mit ihren vertikal
entspringenden Stengeln oder die wagerechten Ausläufer von Pflanzen (wie das kriechende Finger-
kraut, die Erdbeere u. s. w.), welche aus ihren Achselknospen neue Stengel und Wurzeln treiben. Die
 
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