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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0435
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Zusammenhänge zu verfolgen. Erst mit dem Eintritte der Kerzen als Beleuchtungsmittel und mit der
Notwendigkeit ihrer Gruppierung zu einem wirksamen Lichtherde ergab sich nicht sowohl die An-
wendung einer mehrfachen Verzweigung der Gerätachse, als die Umwandlung des lampentragenden,
kapitellartigen Abschlusses in die kerzenumschliessende Blumenhohlform der Dille. Damit war die
Möglichkeit gegeben, dem Bau der Pflanze von ihrem Schafte bis zu ihrem Blütenstande zu folgen.
Nur für den Fuss des Leuchters musste auf das unanwendbare Pflanzenbild: die Wurzel, verzichtet
und zur Anwendung rein architektonischer oder zu den Symbolen tierischer F'ormen zurückgegriffen
werden, welche die Antike für die Beziehungen ihrer Standgeräte zur Bodenfläche so mustergültig aus-
gestaltet hatte. Im Übrigen finden wir aber von der mittelalterlichen Kunst alle pflanzlichen Erscheinungen
und Organe dem Aufbau solcher Standleuchter nutzbar gemacht: Kannelierungen, Riffelungen und andere
Formeigentümlichkeiten des natürlichen Stengels bekleiden den Leuchterschaft, welcher durch orna-
mentale Knotenbildungen in einzelne Stengelstücke gegliedert wird; aus diesen Knotenbildungen ent-
springen Quirlstände stengelumfassender Vorblätter, welche an dem oberen Teile des Leuchters, an
den Punkten, wo die Verzweigung seiner Arme beginnt, als Stützblätter der letzteren dienen. Die
Arme selbst entwickeln sich in Doppelkurven, deren Stellung und Liniament der natürlichen Zweig-
bildung ebenso entspricht, wie die nach dem Gipfel des Leuchters zunehmende Verkürzung derselben
den pflanzlichen Proportionen. Sie organisieren ihren Zusammenhang mit dem Schafte durch die
Weiterführung seines Gerippes und teilen sich gleich ihm durch kleinere Knotenbildungen und Deck-
blätter in einzelne Glieder; an ihren Scheiteln öffnet sich aber die mit Hüllblättern geschmückte Blume
zur Aufnahme der Kerze, welche gleichsam als ihr Griffel das Kunstwerk abschliesst.
In manchen der kirchlichen Prunkleuchter des Mittelalters ist Form wie Disposition der Pflanze
in meisterhafter Weise den Bedingungen des Gerätes und dem Zwecke seiner Glieder angepasst. Die
Richtung und Struktur des Kunstwerkes, seine proportionelle Gliederung und die allmähliche Ver-
jüngung seiner Formen, die Anordnung seiner Ruhepunkte wie seine rhythmische Bewegung sind mit
Hilfe der pflanzlichen Bilder mustergültig zur Erscheinung gebracht. Dabei sind die Einzelformen nichts
weniger als äusserliche Nachahmungen der natürlichen Organe, sondern ornamentale Stilisierungen
welche auch den Bedingungen des Materials vollkommen entsprechen.
Aber nicht nur jedes einzelne Glied, sondern auch das Gesamtbild der Pflanze deckt sich in
diesen Schöpfungen mit den Ideen des Kunstwerkes vollständig. Wie die Entwickelung der Pflanze
dem Blütenstande zustrebt und in den Fruchtblättern: dem Pistill das letzte Ziel des Wachstums er-
reicht, so folgt die Kunstform einem verwandten Gedanken, indem es die den Blütenstand vorbereiten-
den Glieder der Pflanze für seinen Aufbau, die Blüte aber zum Träger für das Moment wählt, welches
die ganze Entwickelung des Kunstwerkes bedingte, zum Träger der lichtspendenden Kerze.
Wenn die Pflanze in dem Bilde ihres Gesamtbaues aber auch nur selten in Architektur- und
Gerätformen übergeführt worden ist, so kehren die künstlerischen Wechselbezüge der Formenelemente
ihres Höhenwachstums doch überall in den Gliederungen und der Struktur solcher Architekturteile,
Gerät und Gefässbildungen wieder, in denen vertikale Richtungsgedanken zu scharfem Ausdruck
gebracht werden mussten. Namentlich basieren die meisten Schmuckformen der Stützen nicht nur in
der Gliederung ihrer Schäfte, sondern auch in ihren Abschlüssen und in ihren Übergangsformen in die
 
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