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Meyer, Franz; Chagall, Marc [Ill.]
Marc Chagall - Der Engelssturz — Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Band 96: Stuttgart: Philipp Reclam Jun., 1964

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.72989#0045
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Farbwelten zu einem spannungsgeladenen Ganzen, zu
jener „Apokalypse der Seele", die — nach Keats — der
Ausdruck aller Poesie ist.
Die Logik im Geschehen des Bildes wird offenbar,
wenn wir bedenken, daß eine geringe Veränderung in
den Tonwerten, in der Komposition, in den Sujets die
Schönheit des Werkes zunichte macht. Was wäre die
Engelsschwinge ohne die hineinverwobene Gestalt von
Mutter und Kind? Was der Tierkopf ohne die Geige,
der Gekreuzigte ohne die ihn anstrahlende Kerze? Es
dürfte kaum etwas Vergleichbares in der modernen
Malerei geben. Dieses Bild ist weder surrealistisch noch
allegorisch, weder kultisch gebunden noch Produkt einer
unkontrollierbaren Halluzination, weder realistisch noch
abstrakt: Es ist das Resultat einer kraftvollen poetischen
Vision, ein Beispiel wahrhaft authentischer Malerei, ein
ganzer Chagall, der mit dieser Schöpfung den Werken
der Großen, die er so verehrt, ganz nahe kommt: Rem-
brandt, Grünewald und Goya.

MENSCH UND NATUR
Aus der Ansprache Chagalls bei der Verleihung des Erasmus-
Preises 1960 in Kopenhagen. Praemium Erasmianum MCMLX
Heute, wo die Welt, gleich uns, alt zu werden scheint,
suchen wir nach tieferen Ausdrucksformen.
Im Rahmen unseres Suchens entdecken wir plötzlich
aufs neue Tizian, ein Mann, der von den Moden der
letzten zwei, drei Jahrhunderte vollkommen vernach-
lässigt wurde. Er scheint selbst ein Stückchen Natur zu
sein. Seine Größe ist in seinem Antlitz zu erkennen. Er
ist wie ein Gott. Ein Kind der Natur, und der Natur
widmete er seine Kunst.
Tatsache ist: Wenn wir zweifeln, finden wir bei der
Betrachtung der Kunst der Natur selbst Befriedigung.
Eine ästhetische Befriedigung. Und wenn wir uns dann
den Werken der Menschen zuwenden, hoffen wir dort
die kosmische Fortsetzung der Natur zu finden.

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