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Meyer, Franz; Chagall, Marc [Ill.]
Marc Chagall - Der Engelssturz — Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Band 96: Stuttgart: Philipp Reclam Jun., 1964

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.72989#0047
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Wir weinen, wenn wir geboren werden, und wir wei-
nen, wenn wir sterben. Das einzige, was uns übrig bleibt,
ist einfach sein! Einfach wie ein Baum oder, wie Maya-
kowsky, der russische Dichter, sagt: „schlicht wie eine
Wolke«.
Unsere Aufgabe ist es, alle Inflationen in ihrer Dauer
zu beschränken, sei es auf kulturellem, künstlerischem,
sozialem oder physischem Gebiet. Unsere Aufgabe ist es,
der kommenden Generation und all denen, die das
Leben lebenswert finden, Freude zu schenken.
Denn in unserer augenblicklichen Inflation, die bereits
so lange dauert, findet man keine Liebe, keinen Glau-
ben, keinen Wert, keine Freiheit und keinen Frieden. Es
gibt nur noch angsterfüllte Schlafwandler. Manchmal
möchte man meinen, es wäre besser, eine Stimme in der
Wüste zu sein als eine der vielen Stimmen, die im Chor
mitschreien aus Angst, daß sie für irgend etwas zu spät
kommen.
„Für was zu spät? Für wen zu spät?"
Aber sie vergessen, nicht zu spät zu sein für sich
selber.
Laßt uns nicht die Rolle eines Genies spielen und so
tun, als ob vor uns die Welt nicht bestand.
Die Menschen leben heutzutage in Angst und zur
gleichen Zeit in einer gewissen Apathie.
In unserer Kindheit kannten wir diese Angst nicht.
Und unser Elternhaus war trotz der dürftigen Umstände
der Familie ein Zuhause. Heute bietet das häusliche Dach
keinen Schutz mehr für unsere Kinder. Obwohl wir
Eltern unsere Kinder lieben, ja sogar verwöhnen.
Welchen Einfluß hat das auf Kunst und Kultur?
Viele sind vollkommen bewußt in die Kunst geflüchtet
oder haben die Welt so mißformt, daß sie nicht mehr zu
erkennen ist. Das Ergebnis ist eine totale Scheidung.
Es ist keine Entschuldigung, wenn man meint, daß die
sichtbare Welt mit all ihren Aspekten der Menschheit
doch bankrott geht.
Die Natur lebt seit Jahrhunderten. Sie geht nie bank-
rott, es sei denn — was Gott möge verhüten —, daß die
Menschen die Natur für lange Zeit ruinieren.

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