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Weinfurter, Stefan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Päpstliche Herrschaft im Mittelalter: Funktionsweisen - Strategien - Darstellungsformen — Mittelalter-Forschungen, Band 38: Ostfildern, 2012

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Vollrath, Hanna,: Lauter Gerüchte? Canossa aus kommunikationsgeschichtlicher Sicht
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https://doi.org/10.11588/diglit.34754#0198

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Lauter Gerüchte? Canossa ans kommunikationsgeschichtlicher Sicht

197

Für England lässt sich sogar recht genau nachvollziehen, welcher Zufall der Nach-
richtenübermittlung dazu führte, dass Canossa dort so gut wie unbekannt blieb135.
Aber waren die Geschichtsschreiber überhaupt repräsentativ für das öffentli-
che Interesse an Canossa? Gerade in diesem Fall könnte man das bezweifeln, da ja
der Brief Gregors VII. an die Fürsten des Reiches gerichtet war, vor denen er wohl
entweder in Ulm oder in Forchheim verlesen wurde. Müssen nicht sie und auch
andere, die beim Verlesen des Briefes anwesend waren, als weitgehend authen-
tisch informierte Zeugen des Canossageschehens gelten, die dann auch eine Ver-
sion von Canossa unters Volk hätten bringen können, die den Ereignissen deutlich
näher gekommen wäre als alles das, was die Geschichtsschreiber überliefern?
Lässt sich erkennen, dass die Fürsten ihr Wissen mit „nach Hause" brachten und
dass ihre Höfe dadurch zu Zentren und Ausgangspunkten eigenständiger Dis-
kurse wurden? Folgende Beobachtung spricht dagegen: Sowohl Brun von Merse-
burg als auch Marianus Scottus waren ihren fürstlichen Herren eng verbunden.
Aber das, was beide über Canossa schreiben, ist auf unterschiedliche Weise unprä-
zise, kenntnisarm und auch falsch. Bei ihnen hat Canossa weder quantitativ noch
qualitativ eine besondere Bedeutung. Beide erwähnen Canossa eher beiläufig als
ein Ereignis unter vielen anderen. Auch sonst gibt es keine Hinweise darauf, dass
Canossa die Gemüter im deutschen Reich erregt hat. Nur bei Lampert finden sich
ausschmückende Anekdoten und die machen oft den Eindruck, als seien sie Pro-
dukte seiner eigenen Phantasie. Das Piktogramm bei Zimmermann zeigt zudem,
dass Canossa in großen Teilen des Reiches gar nicht erwähnt wird136. Canossa hat
die (deutsche) „Welt" offensichtlich nicht erschüttert.

Hugo keine klare Vorstellung vom Ablauf der Ereignisse hatte und Canossa wohl nicht als ein
wichtiges Ereignis wahrgenommen hat.
135 Die 1. Fassung der Chronik des Marianus Scottus wurde in der Mitte des 12. Jahrhunderts von
dem englischen Bischof Robert von Hereford bei einem Besuch in Mainz abgeschrieben und
nach England gebracht. Dort fertigten zwei bekannte Historiographen, deren Schrift sich iden-
tifizieren lässt, unabhängig voneinander Abschriften für ihre eigenen historischen Arbeiten an.
Es waren William of Malmesbury und John of Worcester, die wiederum von nachfolgenden
Historiographen eifrig zugrunde gelegt und ausgeschrieben wurden. Das hatte wiederum zur
Folge, dass Canossa in England bei dem überaus einflussreichen William of Malmesbury nicht
vorkommt und dass Heinrich IV. von ihm recht positiv bewertet wird: Heinrich wird als be-
wundernswerter Kriegsmann dargestellt, der immer alle Schlachten gewonnen habe und au-
ßerdem ein frommer, gottesfürchtiger Herrscher gewesen sei. Vgl. zur Rezeption des Marianus
in England Rodney M. Thompson, The Reading of William of Malmesbury, in: Revue Bénédic-
tine 85,1975, S. 362-402, hier S. 394; William's Charakteristik Heinrichs IV. in: Gesta Regum I,
Kap. 288, hg. von R. A. B. Mynors u. a: Gesta Regum Anglorum. The Deeds of the English
Kings, 2 Bde, Oxford 1998, hier S. 520-521; John of Worcester hat einen Satz über Canossa, der
z. T. von Marianus übernommen ist, fügt aber hinzu: ...(Heinrich und Hildebrand) ... inuicem
pacificantur, sed falso ut postea claruit, in: The Chronicle of John of Worcester 1, hg. von R. R.
Darlington u. a., Oxford 1996, s. a. 1078, S. 30; zu John of Worcester siehe Martin Brett,
John of Worcester and his contemporaries, in: The Writing of History in the Middle Ages: Es-
says presented to Richard William Southern, hg. von R. H. C. Davis u. a. Oxford 1981, S. 101-
126.
136 Um aus dieser Beobachtung den Schluss ziehen zu können, dass z. B. im Norden und Nord
westen des deutschen Reiches das Canossageschehen unbekannt geblieben ist, bedarf es aller-
 
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