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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0056
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31 Methodik und Quellenkorpus

55

Praktiken - Narrative - Stereotype
Über historisches Geschehen erfahren wir nur aus Quellen - erst die Quellen
formen historisches Geschehen und schreiben diesem in der Art und Weise
ihrer Darstellung zugleich einen Sinn zu. Ein wiederkehrendes Motiv in der
Geschichtswissenschaft ist folglich der Streit um die Glaubwürdigkeit einzel-
ner Quellen, deren tendenziöser Bericht im Vergleich mit anderen histori-
schen Zeugnissen nicht zuverlässig scheint - zumindest uns nicht. Am Bei-
spiel der Schilderungen des Blutbads in Jerusalem im Gefolge des Ers-
ten Kreuzzugs analysiert Hay, die Chronisten hätten das von den Kreuzrit-
tern angerichtete Massaker bewusst übertrieben, um die Gnade Gottes zu
betonen, die auf dem Unternehmen geruht habe: Die Gottgefälligkeit des
Sieges zeige sich gerade in der Vernichtung des Gegners.^ Auch Signori be-
tont, man dürfe Darstellungen von Gewalt nicht unkritisch als Ausdruck mit-
telalterlicher Gewalttätigkeit sehen, sondern müsse sie in ihrem zeitlichen
Kontext als stilistisches Mittel erkennen, das eingesetzt werde, um beim Leser
bestimmte Reaktionen auszutösenA Die Feder, so könnte man zusammenfas-
sen, ist mitunter blutiger als das Schwert.
Es scheint also Vorsicht geboten: Die Texte, die uns als Quellen dienen,
sind erstens das Werk einzelner Autoren mit individueller Vorbildung und
spezifischen Interessen und spiegeln deren persönliche Ansicht und Einstel-
lung wider .30 Zweitens sollten die Aussagen der Autoren nicht einfach als
Steinbruch für die Ereignisgeschichte genutzt werden, sondern auf die Art
ihrer Schilderung und die damit verbundene Erzählintentionen hin unter-
sucht werden. Ziel der vorliegenden Arbeit ist also nicht, die genauen Um-
stände etwa des Mordes an Ludwig von Orleans 1407 in Paris zu klären, son-
dern zu untersuchen, wie dieser Mord in verschiedenen Darstellungen be-
schrieben wird, welche sprachlichen Mittel mit welcher Intention eingesetzt
werden, um die Tötung etwa als möglichst grausam darzustellen oder aber
sie implizit schon durch die Art der Schilderung zu rechtfertigen. Es geht also
um den doppelten Charakter von Gewaltdarstellungen in mittelalterlichen
Quellen: Zum einen ist der Großteil der untersuchten Texte handlungs- und
ereignisfixiert. Chronisten berichten (subjektiv) über Geschehnisse und Erfah-
rungen ihrer Zeit und verleihen diesen durch die Überlieferung Ereignischa-
rakter, Traktate und politische Reden reflektieren über spezifische Probleme
und Rechtsdokumente schildern individuelle Fälle und den Umgang mit
ihnen - womit die Quellen einen Einblick in eine vergangene Epoche, in rele-
vante damals Themenfelder und Handlungspraktiken bieten.
Zum anderen entstanden die Quellen in einem spezifischen kulturellen
Kontext und sind eng an die Vorstellungen und Intentionen des jeweiligen
Autors gebundenA Einzelne Beschreibungen von Gewalt sind oft Teil einer

28 Hay, Collateral Damage, S. 19-21.
29 Signori, Frauen, S. 158f.
20 Schmitt, Chroniqueurs, S. 96. Siehe auch Graus, Mentalität, S. 46f.
22 Zu Absichten und Zielen historiographischer Werke (v.a. des Hochmittelalters) siehe Goetz,
Geschichtsschreibung, S. 130-134.
 
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