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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0071
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70

1111 Voraussetzungen

werden: Die czuzhzs Unvzzzz bei Augustinus ist Ausdruck eben jener mensch-
lichen Unzulänglichkeit und damit vor Gott nichtig.^ Beide Herleitungen deu-
ten die Etablierung der irdischen Herrschaft als eine göttliche Reaktion auf
die menschliche Sündhaftigkeit.
Es bleibt die Frage, wie angesichts dieser als schicksalshaft angesehenen
Prägung der Menschheitsgeschichte über Herrschaft und Gewalt gedacht
wurde, bzw. inwiefern diese Konzepte getrennt werden konnten. Ob Herr-
schaft und Krieg als Chance für den Menschen oder aber als Strafe Gottes
auf gefasst wurden, erlaubt bereits einen ersten Einblick in die Art und Weise,
wie die Welt und die mit ihr verbundene Gewalt verstanden wurden. Ausge-
hend von der Grundthese der kulturellen Alterität der mittelalterlichen Ge-
sellschaft ist der Blick auf derartige Sichtweisen unabdingbar, bevor mittelal-
terliche Gewaltausübung in ihren verschiedenen Facetten näher beleuchtet
und verstanden werden kann. Die im Folgenden vorgestellten Zugänge sollen
idealtypisch grundlegende mittelalterliche Einstellungen zur Gewalt be-
schreiben. Es geht dabei nicht um spezielle Situationen oder spektakuläre
Ereignisse, sondern um wiederkehrende, eher abstrakte Perspektiven und
denkbare Handlungsmöglichkeiten, auf deren Grundlage sich dann Wertur-
teile und Meinungen herausbildeten. Den Begriff der ,Mentalität' möchte ich
dabei bewusst vermeiden: Trotz allen Bemühens um eine breite Quellenbasis,
erlaubt diese meines Erachtens keine verallgemeinerbaren Aussagen über
kollektiv geteilte „Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens."" Hier
greift vielmehr die Warnung Sellins, man könne Einzelmeinungen nicht ein-
fach zu einem System aufaddieren.'"
Dennoch lassen die in den Quellen deutlich werdenden individuellen Dis-
positionen wiederkehrende Muster erkennen, etwa schwärmerische Begeiste-
rung oder grundsätzliche Skepsis gegenüber Gewalt."" Autoren des 14. und
15. Jahrhunderts griffen wiederholt auf das traditionelle Beschreibungs- und
Deutungsmodell einer funktional dreigeteilten Gesellschaft zurück, um ver-
schiedene gesellschaftliche Positionen deutlich zu machen."^ Den jeweils
durch eine Personifikation vertretenen ,Ständen' wurden dann gruppenspezi-
fische Meinungen zugeschrieben: So streiten im Songc du Vcrgzer des Evrard
de Tremaugon (ca. 1376/78 verfasst) ein Kleriker und ein Ritter über geistliche
und weltliche Macht und in Alain Chartiers Quadnlogne ztzueUz/' (1422) treten
die Personifikationen Frankreichs (Frzuzcc), des Klerus (?e dergzc), des Ritter-
tums (?e dzeuzdzer) und des Volks (?e yotyU) unter der Leitung eines Modera-
tors (Hzcfeur) in einem Streitgespräch über den Zustand des Landes gegenei-

s Horn, Augustinus, S. 63f.; Stürner, Peccatum, S. 75-78.
9 Dinzelbacher, Theorie, S. XXI.
10 Sellin, Mentalität, S. 575.
11 Haddock und Maio definieren Dispotitionen aus sozilogischer Sicht als „eine psychische Ten-
denz, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass man ein bestimmtes Objekt mit einem gewis-
sen Grad an Zuneigung oder Abneigung bewertet." Haddock/Maio, Einstellungen, S. 189.
12 Vgl. dazu Oexle, Funktionale Dreiteilung [1988]; Mitsch, Stand; Oexle, Tria genera hominum;
Oexle, Funktionale Dreiteilung [1978]; Duby, Trois ordres; Schwer, Stand.
 
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