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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0234
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21 Formen kollektiver Gewalt

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haben sogar ihrer Grausamkeit freien Lauf gelassen und alle Juden getötet,
derer sie habhaft werden konnten.^
Aus anderem Anlass, aber vom Ablauf her ähnlich, beschrieb Michel Pin-
toin, wie 1383 die Revolte der ALnHohns begann.^ Der Streit um die königli-
chen Steuern hatte seit 1380 geschwelt und kochte nun mit den Plänen für
eine neue Steuer wieder hoch, für die sich zunächst jedoch aus Todesangst
(mein morüs) nicht einmal ein Ausrufer fand. Nachdem die Steuer schließlich
durch einen Trick doch veröffentlicht worden war (der Ausrufer erregte zu-
nächst Aufmerksamkeit, gab seinem Pferd dann die Sporen und rief gleich-
sam schon auf der Flucht die Steuer aus), verschworen sich die Pariser „vom
Geist der Rebellion erfasst" (reMhoms spznfM Jam acccnsi), die für diese Steuer
Verantwortlichen zu töten. Als man am nächsten Tag beobachtete, wie auf
dem Markt von einer Kresse verkaufenden Frau - geradezu ein Symbol der
armen, einfachen Menschen - die Steuer erhoben wurde, hatte man in diesem
Eintreiber das erste Ziel gefunden: Er wurde getötet und der Aufstand weite-
te sich schnell aus, so Pintoin. Auch im weiteren Verlauf (sowie auch in ande-
ren Aufständen) wurden Steuereintreiber beziehungsweise königliche Orders
immer wieder Opfer der aufständischen Gewalt.^ Im Narrativ des Chronisten
fand der zunächst konspirative Plan, sich gegen eine als ungerecht empfun-
dene Bedrückung zu wehren, dann als Akt der notwehrhaften Selbsthilfe
seine spontane Umsetzung.
Auch wenn Anspannung, Euphorie und Angst sich in einem Über-
schwang an Emotionen gewaltsam lösten, war die Zielrichtung der aufständi-
schen Gewalt doch keineswegs beliebig. Bewusst, so kann man vermuten,
wurden Personen(-gruppen) zum Ziel, die mit der königlichen Finanzverwal-
tung in Verbindung gebracht wurden.^ Aber auch Objekte wurden gezielt
(aus)gesucht und zerstört: In städtischen Aufständen wurden immer wieder
(Steuer-)Archive und Akten vernichtet, um mit den schriftlichen Belegen auch

64 cdaw MÜcn'MS crM&üfHh's SMC dxHMfes, ex ipsis /M&is wuenerMMf, ocd&rMMf.
Chronique du Religieux, Bd. 1, S. 54.
66 Für die folgende Episode siehe ebd., Bd. 1, S. 134-136.
66 In Arras starben im Jahr 1356 20 nofaNes, Chronique des regnes, Bd. 1, S. 62. Im Verlauf des
Pariser Aufstands 1358 wurden neben den zwei Marschallen (Jean de Conflans und Robert de
Clermont) der königliche heson'er Jehan Baillet, sowie später drei Bedienstete des Dauphins
umgebracht (darunter der gduood de Perkwt'nt Renaud d'Acy), Chronique des quatre premiers
Valois, S. 68; Chronique des regnes, Bd. 1, S. 142f., 148f., 178f.; Chronique normande de Pierre
Cochon, S. 93; Chronographia regum francorum, Bd. 2, S. 268f.; Chronique normande, S. 126;
Chronique de Richard Lescot, S. 128f. Zur gleichen Zeit wurden in Amiens der Bürgermeister
und we Abt gefoltert und getötet, Chronique dite de Jean de Venette, S. 188-190. In Montpel-
lier wurden 1379 mehr als 80 Orders um gebracht, Chronique des regnes, Bd. 2, S. 368f., Chro-
nique des quatre premiers Valois, S. 281. In den Aufständen zwischen 1380 und 1383 wurden
in vielen Städten vor allem Steuereintreiber zum Ziel der Aufständischen: Chronique des quat-
re premiers Valois, S. 299 und 303f.; Chronique des regnes, Bd. 3, S. 11; Froissart, Chroniques
(liv. I & II), S. 834f. (11,54); Juvenal des Ursins, Histoire, S. 348f. Auch während des Bürgerkriegs
im 15. Jahrhundert wurden gezielt Amtsträger der Fürsten in aufstandsartigen Unruhen um-
gebracht: Chronique du Religieux, Bd. 6, S. 94; Monstrelet, Chronique, Bd. 3, S. 177; Bd. 4,
S. 295; Bd. 5, S. 195f.
67 Siehe auch Cohn, Lust, S. 81f.; Graus, Pest, S. 493-495.
 
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