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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0402
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31 Ideal und Devianz

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zu einer „Parodie der Justiz""" werden lässt: So habe Vaurus in Ermangelung
eines Henkers die Menschen mitunter eigenhändig gehängt.^ Des Weiteren
unterstellte der Bourgeois ihm und seinem Cousin als Helfer durchweg niede-
re Motive, da sie ihren Opfern Lösegeld abpressen wollten. Nach dieser be-
reits grundsätzlich negativen Charakterisierung fügt der Bourgeois noch eine
deutlich längere Episode als Exempel für die Grausamkeit des Bastards von
Vaurus an. Diese wird bei keinem anderen Chronisten überliefert und darf
auch wegen ihrer Stilisierung als fiktives Schreckensbild (cxcmpZum iiorri&iiis)
gelten."" Der Bourgeois berichtet von einem jungen Mann, von dem Vaurus ein
so hohes Lösegeld verlangt habe, das dieser kaum aufbringen konnte. Seine
schwangere Frau habe vergeblich versucht, das Lösegeld zu mindern, aber
Vaurus sei unerbittlich geblieben und habe den Mann schließlich an seiner
Ulme gehängt, an der schon 80 oder 100 Menschen hingen. Die Frau sei so
außer sich vor Trauer gewesen, dass sie Vaurus beschimpft und damit wü-
tend gemacht habe. Er habe sie schlagen, ebenfalls hängen und dann sogar
ausziehen lassen, „was eine der größten Unmenschlichkeiten ist, die man sich
vorstellen kann."'"" Sie habe dort die ganze Nacht gehangen und geschrien, so
dass man sie sogar bis in die Stadt habe hören können. Schließlich habe sie
durch ihre Schreie die Wölfe des Waldes angezogen, die sie hungrig angefal-
len, „mit ihren grausamen Zähnen" ihren unbedeckten Bauch aufgerissen
und ihr Kind gefressen haben."""
Der Bourgeois konstruierte diese Episode nicht nur rhetorisch nach Ge-
gensätzen (Arbeiter - Krieger, Schwangere als Leben Spendende - Tötender,
legitime Eheleute - Bastard Vaurus), sondern auch inhaltlich durch implizite
und explizite Anspielungen auf kollektiv verankerte Schreckensbilder, wie
Bove herausarbeitete.'"" Von der Beobachtung, dass der Bourgeois sein
exempiMm zeitlich in der Fastenzeit ansiedelte, über den sexuellen Charakter
der Tat (indem Vaurus sein Opfer entkleidete), bis hin zu dem Tabu, eine
Schwangere zu töten, wird in dem Bericht wiederholt und geradezu systema-
tisch die Verletzung sozialer und religiöser Normen beschrieben. Vaurus
selbst wird in verschiedenen Wendungen wiederholt als „grausamer Tyrann"
apostrophiert.""^ Das von ihm ausgeübte Unrecht bestand vor allem in der
Usurpation des Richteramts.""'" Durch die systematische Transgression kollek-
tiver Tabus wurde Vaurus zur Verkörperung all jener Ängste und Gerüchte,
die man mit der andauernden Kriegsführung verband. Der Fokus der Erzäh-

9? „Parodie de justice." Bove, Violence, S. 125. Die Episode findet sich im Journal d un Bourgeois,
S.184-187(§343-345).
98 Journal d un Bourgeois, S. 184f. (§343), siehe zur Deutung Bove, Violence, S. 125f.
99 So Bove, Violence, S. 131; Bove, Deconstructing, S. 514. Ähnlich auch Beaune, Rumeur, S. 198f.
Mo Q:d Ädf MMO & fpiMsJ gnm&s M?MWM?uÄs ^MOM poMrrdt poMSor. Journal d'un Bourgeois, S. 186
(§345).
Mi Ebd., S. 185-187 (§345).
M2 Zum Folgenden: Bove, Violence, S. 125-128; Bove, Deconstructing, S. 506-510.
M3 Par /g crMHMÄ ;7 Ädf piÜM, piMS emd d?rohoM OM io piMS crMÜ (h/raM)
gMÄc/Mf Norow OM OHirc, p!HX d crMÜ h/rHM, Journal d'un Bourgeois, 184-186 (§343-
345). Vgl. Bove, Violence, S. 128.
M4 Bove, Violence, S. 125.
 
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