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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0428
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31 Ideal und Devianz

427

Tiere" gehaust habe7^ Christine de Pisan fragte 1410 verzweifelt und an-
klagend zugleich, wie es nur möglich sei, dass sich Menschen derart in „grau-
same Bestien"^ verwandelten! Der Gesellschaft des spätmittelalterlichen
Frankreichs, so ließe sich die Diagnose Christines und anderer Autoren zu-
sammenfassen, kam die Menschlichkeit abhanden. Stereotype, Zuschrei-
bungen und Vergleiche, die noch im Hochmittelalter Sinnbilder für das kultu-
rell und religiös ,Andere' waren, wurden nun auf die eigene Gesellschaft
angewandt und topische Grausamkeitszuschreibungen internalisiert. Der
Feind war nicht mehr der deviante ,Andere' oder Fremde, sondern wurde in
der Mitte der eigenen Gesellschaft verortet.^
Wägt man die Rolle ab, die Schilderungen expliziter Gewalt für die Dar-
stellung idealen beziehungsweise devianten Verhaltens spielten, so fällt
schnell auf, dass negativ dargestellte Personen stärker durch Gewalt-
handlungen konturiert wurden als positiv konnotierte Heldenfiguren. Dies ist
durch die hier vorgestellten Gewaltstereotype zu erklären, einem Set an
Handlungsmustern, die sich durch die offensichtliche Verletzung kollektiver
Werte sowie ständischer, sozialer und religiöser Tabus auszeichnete. Diese
Werte und Ideale ließen sich durch negativ konnotiertes Zuwiderhandeln
leichter aufzeigen als durch positiv bewertete Verhaltensweisen. Anders for-
muliert: Die Tötung eines Menschen konnte je nach Person und Umständen
positiv oder negativ bewertet werden (eine Ambivalenz, die besonders bei
Jeanne d'Arc auffällig ist); da Gewalt gegen Kinder oder Schwangere dagegen
eindeutig negativ gesehen wurde, waren sie damit als narratives Motiv wirk-
mächtiger.
Entsprechend ist die Darstellung devianten Verhaltens stärker an die
Schilderung von Gewalt gebunden als die von Idealen, wie das Beispiel Ber-
trands du Guesclin zeigt. Die Idee der bäuerlichen Selbstverteidigung, wie sie
Grand Ferre verkörperte, stellt in seiner Fundierung durch massive (und posi-
tiv dargestellte) Gewaltausübung daher eine Ausnahme dar. Dagegen hat
sich anhand der Beispiele des Bastards von Vaurus und Guillaume Cales eine
gezielte Steigerung ihrer negativen Konturierung in verschiedenen Quellen
gezeigt, die letztlich durch drastische Gewaltschilderungen ihren Höhepunkt
fand. Gleichzeitig grenzten die entsprechenden Quellen sie durch gezielte
Gewaltzuschreibungen und Vergleiche aus der eigenen (ständischen, christli-
chen) Gesellschaft aus. In dem Maße, wie negativ aufgeladene Personen
durch die Schilderung stereotyper Gewaltbilder geformt wurden, trat ihr
individueller Charakter in den Hintergrund.

Ce sewMod m;'e:dx reeepiades de desfes SHMudges tpöd ne semd/od esire daddadoM de gens. Jean de
Bueil, Jouvencel, Bd. 1, S. 19. Siehe auch Nicolas de Clamanges, Opera omnia, Bd. 2, S. 160f.
(Nr. 59).
772 O.' CommeMf pMef-ce esire t?Me CMer dMWHiM, d!?d sod d! PorfMMe eshrmge, s; p:dsf ramener domme d
MgfMre de ires dep/ondde ei crMe/e desfe? Commenf esi-d en d! p:dssH?!ce de PoriMMe de ddeme?d inrns-
WMer domme t?Me coMuerdz sod en serpenf, e?mem;' de MHiMre dMwaiMe? Kennedy, Lamentacion,
S. 180.
273 So auch die Schlussfolgerung bei Baraz, Medieval cruelty, S. 123-125.
 
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