1. Kapitel: Der Kreuzzug als Gotteskrieg - Die Möglichkeitsbedingung charismatischer Akteure 71
lange Zeit ertragen musste.313 Zwar lassen sich auch Vermutungen über die
politischen Motive hinter der Gewalttat anstellen - etwa der Widerstand gegen
eine normannische Vorherrschaft -314, für die Historiographen jedenfalls steht
vor allem ein religiöser Antrieb hinter dem Gewaltexzess.
Wie für Raimund von Aguilers ist die Bluttat für die Chronisten das Ergebnis
religiösen Eifers (zelus) etwas, was im zeitgenössischen Verständnis, anders als
sein modernes Funktionsäquivalent Fanatismus, durchaus positiv besetzt war.
Man wird der religiösen Dimension des Phänomens nicht gerecht, wenn man die
religiösen Begründungen der Historiographie lediglich als Deckmantel für die
politische Motivik bewertet.315 Der tiefere Sinn hinter dieser Gewaltszene er-
schließt sich dem modernen Betrachter erst durch den Vergleich mit dem bibli-
schen Narrativ. Dass es Parallelen zwischen beiden Narrativen gerade in der
Gewaltschilderung gibt, ist der Forschung seit längerem bekannt.
Fraglich ist jedoch der Realitätsgehalt der Gewaltsprache. Stilisieren die
Historiographen das an sich nicht exzeptionelle Verhalten der Kreuzfahrer bei
der Eroberung Jerusalems entsprechend biblisch-narrativer Muster, handelt es
sich also um Topoi, oder war diese Deutung bereits bei den historischen Ak-
teuren, den Kreuzfahrern, vorherrschend und damit wirkmächtig?316 Ein Hin-
weis bietet ein Selbstzeugnis der Kreuzfahrer, das noch unter dem unmittelbaren
Eindruck der Eroberung im September 1099 an den Papst und alle Christen
adressiert wurde.317 Wie Raimund von Aguilers schildern die Kreuzfahrer den
Gewaltexzess im Tempel des Salomo mit Bezug zur Offenbarung des Johannes.
Bis zu den Zügeln der Pferde, so berichten auch die Kreuzfahrer, seien sie auf
dem Vorplatz und im Tempel Salomos im Blut der Feinde geritten.318 Zwar
313 lusto nimiro iudicio, ut locus idem eorum sanguinem exciperet, quorum blasphemias in Deum tarn longo
tempore pertulerat. Le „Liber" de Raymond d'Aguilers, ed. Hill/Hill, S. 150 f.
314 Hehl: Heiliger Krieg - eine Schimäre?, S. 3321.
315 Ebd., S. 333.
316 John France versteht die Eroberung als Ausdruck gängiger Kriegspraxis: „However horrible the
massacre at Jerusalem: it was not far beyond what common practice of the day meted out to any
place which resisted." France, John: Victory in the East. A military history of the First Crusade,
Cambridge [u. a.] 1994, S. 355. Vgl. auch: Elm: Die Eroberung Jerusalems im Jahre 1099, S. 44;
Jaspert: Die Kreuzzüge, S. 42. Elm hat insbesondere auf die Stilisierung des Geschehens auf der
Basis alttestamentlicher Narrativmuster hingewiesen. Ebd., S. 50. Vgl. auch Angenendt: Tole-
ranz und Gewalt, S. 426; Jaspert: Die Kreuzzüge, S. 42.
317 Epistula (Dagoberti) Pisani archiepiscopi et Godefridi ducis et Raimundi de S. Aegidii et uniuersi
exercitus in terra Israel ad papam et omnes Christi fideles, in: Epistulae et chartae, ed. Hagen-
meyer, Nr. 18, S. 167-174.
318 et si scire desideratis, quid de hostibus ibi repertis factum fuerit, scitote: quia in porticu Salomonis et in
templo eins nostri equitabant in sanguine Saracenorum usque ad genua equorum. Epistula (Dagoberti)
Pisani archiepiscopi et Godefridi ducis et Raimundi de S. Aegidii et uniuersi exercitus in terra
Israel ad papam et omnes Christi fideles, in: Epistulae et chartae, ed. Hagenmeyer, Nr. 18, S. 171.
Luigi Russo hat aufgrund der Parallelen zwischen Raimunds Darstellung der blutigen Ereig-
nisse im Tempelbezirk und der zitierten Schilderung im Kreuzfahrerbrief jüngst auf eine Ab-
hängigkeit beider Texte geschlossen, was bereits von Heinrich Hagenmeyer diskutiert wurde,
dem beide Texte als das Werk eines Autors galten, nämlich Raimunds von Aguilers. Vgl. Russo,
Luigi: The Sack of Jerusalem in 1099 and Crusader Violence Viewed by Contemporary Chro-
niclers, in: Elizabeth Lapina/Nicholas Morton (Hg.): The Uses of the Bible in Crusader Sour ces
lange Zeit ertragen musste.313 Zwar lassen sich auch Vermutungen über die
politischen Motive hinter der Gewalttat anstellen - etwa der Widerstand gegen
eine normannische Vorherrschaft -314, für die Historiographen jedenfalls steht
vor allem ein religiöser Antrieb hinter dem Gewaltexzess.
Wie für Raimund von Aguilers ist die Bluttat für die Chronisten das Ergebnis
religiösen Eifers (zelus) etwas, was im zeitgenössischen Verständnis, anders als
sein modernes Funktionsäquivalent Fanatismus, durchaus positiv besetzt war.
Man wird der religiösen Dimension des Phänomens nicht gerecht, wenn man die
religiösen Begründungen der Historiographie lediglich als Deckmantel für die
politische Motivik bewertet.315 Der tiefere Sinn hinter dieser Gewaltszene er-
schließt sich dem modernen Betrachter erst durch den Vergleich mit dem bibli-
schen Narrativ. Dass es Parallelen zwischen beiden Narrativen gerade in der
Gewaltschilderung gibt, ist der Forschung seit längerem bekannt.
Fraglich ist jedoch der Realitätsgehalt der Gewaltsprache. Stilisieren die
Historiographen das an sich nicht exzeptionelle Verhalten der Kreuzfahrer bei
der Eroberung Jerusalems entsprechend biblisch-narrativer Muster, handelt es
sich also um Topoi, oder war diese Deutung bereits bei den historischen Ak-
teuren, den Kreuzfahrern, vorherrschend und damit wirkmächtig?316 Ein Hin-
weis bietet ein Selbstzeugnis der Kreuzfahrer, das noch unter dem unmittelbaren
Eindruck der Eroberung im September 1099 an den Papst und alle Christen
adressiert wurde.317 Wie Raimund von Aguilers schildern die Kreuzfahrer den
Gewaltexzess im Tempel des Salomo mit Bezug zur Offenbarung des Johannes.
Bis zu den Zügeln der Pferde, so berichten auch die Kreuzfahrer, seien sie auf
dem Vorplatz und im Tempel Salomos im Blut der Feinde geritten.318 Zwar
313 lusto nimiro iudicio, ut locus idem eorum sanguinem exciperet, quorum blasphemias in Deum tarn longo
tempore pertulerat. Le „Liber" de Raymond d'Aguilers, ed. Hill/Hill, S. 150 f.
314 Hehl: Heiliger Krieg - eine Schimäre?, S. 3321.
315 Ebd., S. 333.
316 John France versteht die Eroberung als Ausdruck gängiger Kriegspraxis: „However horrible the
massacre at Jerusalem: it was not far beyond what common practice of the day meted out to any
place which resisted." France, John: Victory in the East. A military history of the First Crusade,
Cambridge [u. a.] 1994, S. 355. Vgl. auch: Elm: Die Eroberung Jerusalems im Jahre 1099, S. 44;
Jaspert: Die Kreuzzüge, S. 42. Elm hat insbesondere auf die Stilisierung des Geschehens auf der
Basis alttestamentlicher Narrativmuster hingewiesen. Ebd., S. 50. Vgl. auch Angenendt: Tole-
ranz und Gewalt, S. 426; Jaspert: Die Kreuzzüge, S. 42.
317 Epistula (Dagoberti) Pisani archiepiscopi et Godefridi ducis et Raimundi de S. Aegidii et uniuersi
exercitus in terra Israel ad papam et omnes Christi fideles, in: Epistulae et chartae, ed. Hagen-
meyer, Nr. 18, S. 167-174.
318 et si scire desideratis, quid de hostibus ibi repertis factum fuerit, scitote: quia in porticu Salomonis et in
templo eins nostri equitabant in sanguine Saracenorum usque ad genua equorum. Epistula (Dagoberti)
Pisani archiepiscopi et Godefridi ducis et Raimundi de S. Aegidii et uniuersi exercitus in terra
Israel ad papam et omnes Christi fideles, in: Epistulae et chartae, ed. Hagenmeyer, Nr. 18, S. 171.
Luigi Russo hat aufgrund der Parallelen zwischen Raimunds Darstellung der blutigen Ereig-
nisse im Tempelbezirk und der zitierten Schilderung im Kreuzfahrerbrief jüngst auf eine Ab-
hängigkeit beider Texte geschlossen, was bereits von Heinrich Hagenmeyer diskutiert wurde,
dem beide Texte als das Werk eines Autors galten, nämlich Raimunds von Aguilers. Vgl. Russo,
Luigi: The Sack of Jerusalem in 1099 and Crusader Violence Viewed by Contemporary Chro-
niclers, in: Elizabeth Lapina/Nicholas Morton (Hg.): The Uses of the Bible in Crusader Sour ces