3. Kapitel: Peter der Eremit - Der primus auctor des Ersten Kreuzzugs
157
dass sie erfunden ist."765 Als kategoriale Differenz zwischen Historiographie und
Literatur wurde vielmehr die Fiktionalität bzw. Faktualität eines Textes stark
gemacht. Während historiographische Texte grundsätzlich an die historische
Wirklichkeit rückgebunden seien, von der sie erzählen, und daher in ihrem
Wahrheitsgehalt überprüfbar seien, würden literarische Texte ihre Erzählung
unabhängig von der Wirklichkeit erschaffen, weshalb sie folgerichtig als wahr-
heitsindifferent klassifiziert wurden.766
Gemessen an jener Unterscheidung entzieht sich das Chanson d'Antioche
der Klassifikation als historiographischer bzw. literarischer Text, da es zwar von
historischen Ereignissen erzählt, eben dem Ersten Kreuzzug, und dabei nach-
weislich auf Historiographie rekurriert; allerdings stellt es dabei die Faktizität
hinter die Fiktionalität zurück - oder um es mit den Worten der beiden Über-
setzerinnen zu sagen: „[...] in the Antioche, fact takes second lace to literary
construction".767
Die strittige Frage, ob das Chanson d'Antioche damit überhaupt noch als
Chanson de geste klassifiziert werden kann oder ein literarischer Typus sui ge-
neris sei, kann und soll hier nicht weiterverfolgt werden.768 Diese definitorische
Frage ist Sache der Literaturwissenschaften, nicht der Geschichtswissenschaften.
Wesentlich ist an dieser Stelle, dass das Chanson d'Antioche aufgrund dieser
Besonderheit einen besonderen Erkenntniswert für die hier im Fokus stehende
Fragestellung besitzt.
Von Interesse ist, inwieweit der Dichter die Geschichte vom Ersten Kreuzzug
umformte, welche kommunikativen Techniken und Strategien er dabei bemühte,
um daran anschließend zu klären, inwieweit seine Konstruktion der Historio-
graphie verpflichtet blieb. Mit anderen Worten: Es gilt aufzuzeigen, wo die
765 Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum
Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft: Wuppertaler
Schriften 2), Berlin 2001, S. 177.
766 Vgl. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum
Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, S. 68; Grünkom, Gertrud: Die Fiktionalität des
höfischen Romans um 1200 (Philologische Studien und Quellen 129), Berlin 1994, S. 11. Auf die
Problematik jener kategorialen Differenz für mittelalterliche Texte hat zuletzt Grieb hingewie-
sen. Vgl. Grieb: Schlachtenschilderungen in Historiographie und Literatur (1150-1230), S. 32 f.,
68.
767 Edgington/Sweetenham (Bearb.): The Chanson d'Antioche, S. 29.
768 In der Forschung wird bis heute kontrovers darüber diskutiert, inwieweit es sich beim Chanson
d'Antioche um ein Chanson de geste handelt oder nicht. Insbesondere Karl-Heinz Bender hat
den Unterschied des Chansons d'Antioche gegenüber anderen Chanson de geste betont. Das
Chanson sei „ime chronique entre l'epopee et l'hagiographie", wie es Bender bezeichnet. Bender,
Karl-Heinz: Les premieres epopees de la Croisades: de la cronique au roman chevaleresque
epique, in Ders./Hermann Kleber (Hg.): Grundriss der Literatur im Mittelalter, Bd. 3: Les epo-
pees romes, Heidelberg 1986, S. 37-56, hier S. 37. Zur anhaltenden Diskussion um die Katego-
risierungsfrage des Chansons d'Antioche vgl. Mickel, Emanuel: Writing the Record: The Old
French Crusade Cycle, in: Philip E. Bennet/Anne Elizabeth Cobby/Jane E. Everson (Hg.): Epic
and Crusade: Proceedings of the Colloquium of the Societe Rencesvals British Branch held at
Lucy Cavendish College, Cambridge, 27-28 March 2004 (British Rencesvals Publications 4),
Edinburgh 2006, S. 39-64.
157
dass sie erfunden ist."765 Als kategoriale Differenz zwischen Historiographie und
Literatur wurde vielmehr die Fiktionalität bzw. Faktualität eines Textes stark
gemacht. Während historiographische Texte grundsätzlich an die historische
Wirklichkeit rückgebunden seien, von der sie erzählen, und daher in ihrem
Wahrheitsgehalt überprüfbar seien, würden literarische Texte ihre Erzählung
unabhängig von der Wirklichkeit erschaffen, weshalb sie folgerichtig als wahr-
heitsindifferent klassifiziert wurden.766
Gemessen an jener Unterscheidung entzieht sich das Chanson d'Antioche
der Klassifikation als historiographischer bzw. literarischer Text, da es zwar von
historischen Ereignissen erzählt, eben dem Ersten Kreuzzug, und dabei nach-
weislich auf Historiographie rekurriert; allerdings stellt es dabei die Faktizität
hinter die Fiktionalität zurück - oder um es mit den Worten der beiden Über-
setzerinnen zu sagen: „[...] in the Antioche, fact takes second lace to literary
construction".767
Die strittige Frage, ob das Chanson d'Antioche damit überhaupt noch als
Chanson de geste klassifiziert werden kann oder ein literarischer Typus sui ge-
neris sei, kann und soll hier nicht weiterverfolgt werden.768 Diese definitorische
Frage ist Sache der Literaturwissenschaften, nicht der Geschichtswissenschaften.
Wesentlich ist an dieser Stelle, dass das Chanson d'Antioche aufgrund dieser
Besonderheit einen besonderen Erkenntniswert für die hier im Fokus stehende
Fragestellung besitzt.
Von Interesse ist, inwieweit der Dichter die Geschichte vom Ersten Kreuzzug
umformte, welche kommunikativen Techniken und Strategien er dabei bemühte,
um daran anschließend zu klären, inwieweit seine Konstruktion der Historio-
graphie verpflichtet blieb. Mit anderen Worten: Es gilt aufzuzeigen, wo die
765 Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum
Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft: Wuppertaler
Schriften 2), Berlin 2001, S. 177.
766 Vgl. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum
Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, S. 68; Grünkom, Gertrud: Die Fiktionalität des
höfischen Romans um 1200 (Philologische Studien und Quellen 129), Berlin 1994, S. 11. Auf die
Problematik jener kategorialen Differenz für mittelalterliche Texte hat zuletzt Grieb hingewie-
sen. Vgl. Grieb: Schlachtenschilderungen in Historiographie und Literatur (1150-1230), S. 32 f.,
68.
767 Edgington/Sweetenham (Bearb.): The Chanson d'Antioche, S. 29.
768 In der Forschung wird bis heute kontrovers darüber diskutiert, inwieweit es sich beim Chanson
d'Antioche um ein Chanson de geste handelt oder nicht. Insbesondere Karl-Heinz Bender hat
den Unterschied des Chansons d'Antioche gegenüber anderen Chanson de geste betont. Das
Chanson sei „ime chronique entre l'epopee et l'hagiographie", wie es Bender bezeichnet. Bender,
Karl-Heinz: Les premieres epopees de la Croisades: de la cronique au roman chevaleresque
epique, in Ders./Hermann Kleber (Hg.): Grundriss der Literatur im Mittelalter, Bd. 3: Les epo-
pees romes, Heidelberg 1986, S. 37-56, hier S. 37. Zur anhaltenden Diskussion um die Katego-
risierungsfrage des Chansons d'Antioche vgl. Mickel, Emanuel: Writing the Record: The Old
French Crusade Cycle, in: Philip E. Bennet/Anne Elizabeth Cobby/Jane E. Everson (Hg.): Epic
and Crusade: Proceedings of the Colloquium of the Societe Rencesvals British Branch held at
Lucy Cavendish College, Cambridge, 27-28 March 2004 (British Rencesvals Publications 4),
Edinburgh 2006, S. 39-64.