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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.4244#0004
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DIE DEUTSCHE KUNST DES NEUNZEHNTEN
JAHRHUNDERTS.
IHRE ZIELE UND THATEN, VON CORNELIUS GURLITT. BERLIN. BONDI. 1899.

Neuerdings hört man wiederum öfter die alte Frage
erörtern, worin denn das Wesentliche und Charak-
teristische der deutschen Kunst gelegen wäre. Die
sicherste Antwort hierauf darf man wohl von jenen Kunst-
werken der Völkerwanderungszeit erwarten, an denen
— soviel sich heute beurtheilen lässt — zum erstenmale
Germanenhand sich bildend versucht hat. Sie darum zu
befragen, war mir kürzlich Veranlassung geboten. So
fremdartig nun die Motive und ihre Behandlung auf den
ersten Blick erscheinen mochten: bei näherem Zusehen
ergab sich fast immer, dass das Seitenstück dazu bereits
in der spätrömischen Antike oder im frühen Byzantinismus
anzutrefsen war. NurEines machte hievon eine Ausnahme:
mitten in der Flächenverzierung fand sich von Menschen-
und Thierfiguren hier ein Kopf, dort ein Arm, da ein
Bein, dort ein Rumpf, entweder völlig isolirt, oder seltsam
phantastisch 'bis zur Vernichtung der wechselseitigen
Zusammengehörigkeit verschlungen. Es ergab sich, dass
diese frühgermanischen »Künstler« mit offenbarer Absicht
die Wiedergabe der geschlossenen Figur als eines organi-
schen Ganzen vermieden und dafür einzelne Theile des
zerstückelten Körpers zum Flächenschmucke verwendet
haben. Was sie zu schauen begehrten, was ihnen
Harmonie schuf, war also nicht das organisch zusammen-
hängende Ganze, sondern im bewussten Gegensatz dazu

die an und für sich existenzunsähigen Theile. Damit
gelangte aber eine künstlerische Empsindung zum Aus-
druck, die allem Antiken stracks zuwiderläuft: selbst der
Spätrömer und der Byzantiner, die doch im Allgemeinen
nichtminderdasBestrebenhatten, dieehemalige klassische
Formenklarheit auszuheben und an ihre Stelle koloristische
Masseneffecte zu setzen, haben dieses Ziel wohl durch
eine endlose Vervielsältigung, nicht aber durch Zer-
stückelung der organischen Einheiten zu erreichen
gesucht. In dieser grundsätzlichen Neigung zur Theilung,
die zu der nicht minder grundsätzlichen Vorliebe der
Mittelmeervölker für die Centralisirung den diametralen
Gegensatz bildet, werden wir somit einen eingeborenen
Charakterzug im Schasfen der germanischen Rasse zu
erkennen haben. Es würde nicht schwer halten, die
monumentalen Belege dasür aus der gesammten späteren
deutschen Cultur- und Kunstgeschichte beizubringen; an
dieser Stelle müssen wir es uns an der blossen Feststellung
der Thatsache genügen lassen, weil sie uns lediglich
dazu dienen soll, den inneren Wert des Gurlitt'schen
Buches und seine Bedeutung sür den modernen deutschen
Leserkreis klarzustellen. Dieses Buch über deutsche
Kunst, geschrieben von einem deutschen Künstler sür
deutsche Leser, ist nämlich durchaus getragen von dem
gleichen particularistischen Geiste, der jene srüh-
 
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