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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.4250#0066
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H. Daumier

Die Trunkenheit Silens.

Les Maitres du dessin. Publication mensuelle
editee par l'Imprimerie Chaix sous la direction de M. Roger
Marx. Ile volume: Les dessins francais du siecle ä l'Ex-
position Universelle de 1900. Paris 1901. (12 Lieferungen
zu je 2'50 Fr.).
Es ist heute noch schwer, ja ich glaube, in der That unmöglich,
einen klaren Überblick über die Entwicklung der französischen Kunst in
dem jüngst verflossenen Jahrhunderte zu gewinnen. Hier kreuzen sich
so viele der verschiedensten Strömungen und Richtungen, dass es uns,
die wir diesen Ereignissen noch allzu nahe stehen, kaum gelingen mag,
ihnen allen gerecht zu werden. Der vorliegende Band ist dafür ein neuer
Beweis; er enthält eine bunte Reihe von französischen Zeichnungen des
XIX. Jahrhunderts, von Prudhon und Isabey an bis auf die neueste
Zeit. Es ist eine reiche und, wie es scheint, wohlüberlegte Aus-
wahl aus dem Schatze, den die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900
zu Tage gesördert hatte; und dem Herausgeber gebührt unser ehrlicher
Dank dafür, dass er durch seine Verössentlichung eine grosse Anzahl
von Blättern, die theils aus Privatbesitz, theils aus Provinzmuseen
stammten, vor der Vergessenheit bewahrt hat, die sie sicherlich nicht
verdient hätten.
Eine solche Sammlung, bei deren Zusammenstellung der Zufall
eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat, ist wohl schwerlich
dazu geeignet, uns den Faden der Entwicklung finden zu lassen, an dem
wir so gerne die einzelnen Individualitäten gleich grösseren und kleineren
Perlen aufzureihen pslegen. So weit sind wir, wie gesagt, heute noch
nicht. Doch lässt sich auch an diesen wenigen Beispielen ein bezeich-
nendes Merkmal sinden, das der französischen Zeichenkunst des XIX
Jahrhunderts überhaupt ihre hohe Stellung sichert. Es ist die Sicher-

heit und Festigkeit des Stiles, die sich fast in allen diesen
Handzeichnungen deutlich zeigt, so verschieden auch die einzelnen
künstlerischen Persönlichkeiten sein mögen. Kaum in einem von den
Blättern, die uns hier vorliegen, gewahrt man ein Ringen nach dem Stil,
wie es sast an jeder Zeichnung selbst unserer grüssten deutschen Künst-
ler ausfällt; der Franzose sucht den Stil nicht, er hat ihn. Will man
deutlicher erkennen, was Stil in der Zeichnung heisst, so braucht man
sich nur die Blätter von Ingres, Daumier und Millet anzusehen, die
in dieser Sammlung ganz vortrefflich vertreten sind.
Ingres' Bildnisszeichnungen gehören ohne Zweifel zu dem Vor-
züglichsten, was die französische Zeichenkunst überhaupt hervorgebracht
hat. Er hat eine Art, scheinbar den Gegenstand ganz für sich selber
sprechen zu lassen, die ganz unnachahmlich ist. Sein Stil ist objectiv,
fast kühl und so knapp, als nur irgend möglich; man mag ihn classisch
nennen, wenn man will, ebenso wie etwa die Sprache Merimees und
Maupassants, die oft schreiben, als hätten sie keinen Antheil an dem
Gegenstande ihrer Erzählung. Man hat Ingres' Zeichnungen mit einem
leichtfertigen Worte, das sich nur einigermassen durch die Vorliebe
unserer Tage für die Schlagworte Individualität und Originalität erklärt,
»Amateurphotographien von Menschenhand« genannt. Es lässt sich kaum
etwas Schieseres über diese Blätter sagen, die mehr als manche heute
viel bewunderte Schöpfungen, bei denen die anspruchsvolle Persönlich-
lichkeit des Künstlers selbst so zu sagen aus dem Rahmen tritt, die Hand
des grossen »denkenden« Künstlers voraussetzen, — die Meisterhand.
Es gibt auch nicht viele solche Amateurphotographen, nicht viele, die
zeichnen können wie Ingres und schreiben wie Merimce.
Einer von den Grossen, bei denen Wollen und Können eines sind,
ist auch Honore Daumier. Gerade die französische Weltausstellung von
1900 hat diesen bisher fast nur als Caricaturenzeichner bewunderten
 
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