entbehrt. Und ferner die Bekämpfung des anatomischen Unterrichtes als Quelle einer allzu naturalistisch-realistischen
Auffassung; auch hier hatten die Tradition und der Nachruhm tatsächlich erworbene Verdienste Michelangelos in über-
triebener Weise aufgebauscht und in falsche Bahnen gelenkt. Alle Quellen, vor allem Condivi1, überliefern uns Nach-
richten über die Studien, die Michelangelo im Verein mit den Ärzten Baccio Rontini und Realdo Colombo an Leichen
gepflogen hatte; daß er gemeinsam mit Colombo einen anatomischen Atlas herauszugeben beabsichtigte. Es ist nun unge-
mein charakteristisch, wie verschiedene Darstellungen2 auf uns gekommen sind, die den mit solchen Versuchen beschäftigten
Michelangelo abbilden; die schöne Zeichnung von Bartol. Passerotti im Louvre und die von Wickhoff dem Bart. Manfredi
zugeschriebene Zeichnung einer Leichensektion durch Michelangelo und Ant. della Torre, die wohl schon bei den Vor-
besitzern Crozat und Mariette als die (keineswegs gesicherte) Abbildung dieser Begebenheit angesprochen wurde. Wir
wissen überdies, wie in den verschiedenen Künstlerateliers der Gipsabguß einer anatomischen Figur immer wiederkehrt, die
als die »Notomia di Michel-
angiolo« bezeichnet wurde,
wie dies unter anderem uns
Crespi3 bestätigt. Und schon
bei Lomazzo klingt leise der
Vorwurf durch gegen diese
nicht immer für die Kunst-
entwicklung vorteilhaften
Versuche Michelangelos, '
den Maratta, wie wir in Bei-
loris Beschreibung des Aka-
demiestiches lasen, wieder-
holt hat.
Im Zeitalter Carlo Ma-
rattas aber tauchen die
hier vertretenen Meinungen
allenthalben auf. Ganz parallel
zu jener Erscheinung, daß
die Opposition Marattas
gegen Bernini ein allgemein
durchdringendes Phänomen
wird, das bei Passen (1673
abgeschlossen, erst 1772
ediert), bei Bellori (1672), in
Sandrarts Teutscher Aka-
demie (1678/9) hervorklingt.
Darüber hat Georg Sobotka,
dessen ungemein tragisches
Schicksal wir so tief beklagen,
in ausgezeichneter Weise
gehandelt.
Fast um dieselbe Zeit
wirkt in Venedig Gregorio
Lazzarini, dessen Kunst in
der Ablehnung derTenebrosi
fast als Gegenstück der
Abb. 12. Carlo Maratta, Das Portrat Raffaels.
Stich.
marattesken Bestrebungen
gelten kann. De Dominicis3
Beschreibung der pedanti-
schen Lehrweise des neapo-
litanischen Malers Francesco
de Maria (1623 bis 1690), der
die von Andrea Vaccaro ge-
gründete Accademia del nudo
nach dessen Tode über-
nommen hatte, zeigt den
Konflikt auf, der einen sol-
chen Kunstbetrieb mit den
gleichzeitigen Anschauun-
gen Luca Giordanos in
Gegensatz bringen mußte.
Denn als was für ein haar-
sträubendes Unterfangen
mußten auch (nicht nur für
Maratta allein) die Ansichten
des de Maria erscheinen,
wenn letzterer die Gepflogen-
heit übte, man müsse die
Gliedmaßen der Modelle vor
der Pose tüchtig reiben, um
das Hervortreten und das
Spiel der Muskeln, Adern
usw. besser erkennen zu
können. (Nachwirkung der
Kunst Riberas.)
Schon Marcel" hat
bemerkt, daß Marattas Kunst
manche Ähnlichkeiten mit
den Bestrebungen Charles
Lebruns aufweise; aber wie
der französische Gelehrte in
seinem ganzen Buche die
gleichzeitige italienische Kunst unterschätzt, so wird er auch der Bedeutung Marattas nicht völlig gerecht. Courajod7 hat
das geistreiche Wort ausgesprochen, daß dem absoluten Herrschertume Ludwigs XIV. die absolute Kodifizierung des
akademischen Lehrbetriebes entsprach, die in der Gründung der Pariser Akademie und in dem literarischen Wirken
1 Quellenschriften für Kunstgeschichte VI (Wien, 1S74J.
- Steinmann, Porträtdarstellungen Michelangelos, Rom. Forschungen der Bibl. Hertziana, vol. III, 1913.
3 L. Crespi, Vite dei pittori ßolognesi, Roma 17G9, S. 163.
1 >volse inchinare un poco a l'estremo, et rilevare alquanto piu i muscoli«.....
5 De Dominici, a. a. O., III, S. 571 ff.
0 Marcel, La peinture francaise . . . 1690 bis 1721, Paris.
1 Courajod, Lecons, Paris, 1903, vol. III, S. 315.
22
Auffassung; auch hier hatten die Tradition und der Nachruhm tatsächlich erworbene Verdienste Michelangelos in über-
triebener Weise aufgebauscht und in falsche Bahnen gelenkt. Alle Quellen, vor allem Condivi1, überliefern uns Nach-
richten über die Studien, die Michelangelo im Verein mit den Ärzten Baccio Rontini und Realdo Colombo an Leichen
gepflogen hatte; daß er gemeinsam mit Colombo einen anatomischen Atlas herauszugeben beabsichtigte. Es ist nun unge-
mein charakteristisch, wie verschiedene Darstellungen2 auf uns gekommen sind, die den mit solchen Versuchen beschäftigten
Michelangelo abbilden; die schöne Zeichnung von Bartol. Passerotti im Louvre und die von Wickhoff dem Bart. Manfredi
zugeschriebene Zeichnung einer Leichensektion durch Michelangelo und Ant. della Torre, die wohl schon bei den Vor-
besitzern Crozat und Mariette als die (keineswegs gesicherte) Abbildung dieser Begebenheit angesprochen wurde. Wir
wissen überdies, wie in den verschiedenen Künstlerateliers der Gipsabguß einer anatomischen Figur immer wiederkehrt, die
als die »Notomia di Michel-
angiolo« bezeichnet wurde,
wie dies unter anderem uns
Crespi3 bestätigt. Und schon
bei Lomazzo klingt leise der
Vorwurf durch gegen diese
nicht immer für die Kunst-
entwicklung vorteilhaften
Versuche Michelangelos, '
den Maratta, wie wir in Bei-
loris Beschreibung des Aka-
demiestiches lasen, wieder-
holt hat.
Im Zeitalter Carlo Ma-
rattas aber tauchen die
hier vertretenen Meinungen
allenthalben auf. Ganz parallel
zu jener Erscheinung, daß
die Opposition Marattas
gegen Bernini ein allgemein
durchdringendes Phänomen
wird, das bei Passen (1673
abgeschlossen, erst 1772
ediert), bei Bellori (1672), in
Sandrarts Teutscher Aka-
demie (1678/9) hervorklingt.
Darüber hat Georg Sobotka,
dessen ungemein tragisches
Schicksal wir so tief beklagen,
in ausgezeichneter Weise
gehandelt.
Fast um dieselbe Zeit
wirkt in Venedig Gregorio
Lazzarini, dessen Kunst in
der Ablehnung derTenebrosi
fast als Gegenstück der
Abb. 12. Carlo Maratta, Das Portrat Raffaels.
Stich.
marattesken Bestrebungen
gelten kann. De Dominicis3
Beschreibung der pedanti-
schen Lehrweise des neapo-
litanischen Malers Francesco
de Maria (1623 bis 1690), der
die von Andrea Vaccaro ge-
gründete Accademia del nudo
nach dessen Tode über-
nommen hatte, zeigt den
Konflikt auf, der einen sol-
chen Kunstbetrieb mit den
gleichzeitigen Anschauun-
gen Luca Giordanos in
Gegensatz bringen mußte.
Denn als was für ein haar-
sträubendes Unterfangen
mußten auch (nicht nur für
Maratta allein) die Ansichten
des de Maria erscheinen,
wenn letzterer die Gepflogen-
heit übte, man müsse die
Gliedmaßen der Modelle vor
der Pose tüchtig reiben, um
das Hervortreten und das
Spiel der Muskeln, Adern
usw. besser erkennen zu
können. (Nachwirkung der
Kunst Riberas.)
Schon Marcel" hat
bemerkt, daß Marattas Kunst
manche Ähnlichkeiten mit
den Bestrebungen Charles
Lebruns aufweise; aber wie
der französische Gelehrte in
seinem ganzen Buche die
gleichzeitige italienische Kunst unterschätzt, so wird er auch der Bedeutung Marattas nicht völlig gerecht. Courajod7 hat
das geistreiche Wort ausgesprochen, daß dem absoluten Herrschertume Ludwigs XIV. die absolute Kodifizierung des
akademischen Lehrbetriebes entsprach, die in der Gründung der Pariser Akademie und in dem literarischen Wirken
1 Quellenschriften für Kunstgeschichte VI (Wien, 1S74J.
- Steinmann, Porträtdarstellungen Michelangelos, Rom. Forschungen der Bibl. Hertziana, vol. III, 1913.
3 L. Crespi, Vite dei pittori ßolognesi, Roma 17G9, S. 163.
1 >volse inchinare un poco a l'estremo, et rilevare alquanto piu i muscoli«.....
5 De Dominici, a. a. O., III, S. 571 ff.
0 Marcel, La peinture francaise . . . 1690 bis 1721, Paris.
1 Courajod, Lecons, Paris, 1903, vol. III, S. 315.
22