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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.3683#0030
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Abb. 16. Andrea Sacchi, Skizze für das Deckengemälde des Palazzo Baibenni.
Wien, Hofmuseum.

der seit dem XV. Jahrhundert dem Lukian
untergeschoben wird und den G. Mancini
in seiner Edition der Tischgespräche L.
B. Albertis (Opera inedita . . ., Firenze
1890, S. 132 f.) herausgegeben hat. Der
Inhalt des Zwiegespräches zwischen Vir-
tus und Merkur ist der, daß die Tugend-
göttin sich über die ihr von der For-
tuna, ihrer Feindin, zugefügte Schmach
beklagt. Schutzlos und verlassen — denn
ihre Getreuen Demosthenes, Cicero, Archi-
medes, Polyklet und Praxiteles könnten
sie nicht verteidigen —, nackt und mit
zerrissenem Gewände will sie bei Jupiter
über die erlittene Beleidigung Beschwerde
erheben. Sie bittet Merkur um Fürsprache
— dies ist der Inhalt der oberen Szene
des Stiches —, um von Jupiter empfangen
zu werden. Der Himmelsvater aber ver-
weigert aus Furcht vor der Fortuna die
erbetene Gnade und Merkur kann ihr nur
den wenig hoffnungsvollen Rat erteilen,
sich unter die plebejischen Götter zu
verbergen, bis sie vor dem Haß der Fortuna nichts mehr zu fürchten haben werde; resigniert ergibt sich Virtus in ihr
Schicksal: »aetemum latitandum est; ego et nuda et despecta excludor«.

Wie dem auch sein mag, an der gedanklichen und kompositionellen Beeinflussung Marattas durch dieses Blatt kann
wohl nicht gezweifelt werden. Die fast kongruente Haltung der Bedrohten, das Motiv der auf der Kugel stehenden Frau,
im Hintergrund die Ruinenlandschaft, die fliehende allegorische Figuren beleben, und endlich das Eingreifen heidnischer
Gottheiten in den Wolken — alle diese Einzelheiten bekräftigen, daß der Virtus-Stich die Vorlage für die Allegorie
der Ignoranza gebildet hat. Zumal die in den beiden Fällen ersichtliche Absicht nach einer verkleinerten Abbildung der
in den Wolken erscheinenden Göttergestalten spricht für unsere Behauptung,1 wenngleich damit nur eine besonders
betonte Unterscheidung zwischen den Göttern und den durch Allegorien versinnbildlichten Untaten und Verfehlungen
menschlicher (und göttlicher) Schwäche und menschlichen Unverstandes ausgedrückt werden soll. Denn diese
Kompositionsform, die für den Renaissancekünstler und besonders für den Romanisten — der Meister von 1515 dürfte der
Herkunft nach vermutlich ein Deutscher gewesen sein — einer allgemein üblichen Gepflogenheit entsprach, erscheint in
ihrer Verwendung bei Maratta dagegen befremdend und ungewöhnlich; ohne vermittelnde Vorlage würde ihr Auftreten
nicht recht erklärbar sein.

Wir werden uns fragen, wieso es kam, daß Carlo gerade auf diesen ziemlich seltenen Stich zurückgriff. Die Erklärung
findet sich wohl darin, daß Maratta als S am m 1 er möglicherweise dieses Blatt besaß oder irgendwo, vielleicht im Verkehr mit
Bellori, zu Gesicht bekam. Ferner — und dies ist viel wesentlicher — galt das Blatt voraussichtlich nicht als das Werk eines
anonymen Stechers, sondern die leicht erkennbaren Zusammenhänge dieser Stichgruppe mitMantegna, Dürer und Marc-
anton werden viel höher wertende Künstlerbezeichnungen mit ihr in Verbindung gebracht haben. So folgte auch hier
Maratta nur seiner Zuneigung für die Kunst der raffaelesken Epoche, wenn er seine Erfindung in manchem dieser
Komposition nachbildete und vielleicht sogar aus ihr die erste Inspiration für den Entwurf seines Ignoranzablattes
empfing; und wenn man sich an die von Schlosser zitierte Beschreibung dieses Vorwurfes in der Carta del navegar
pittoresco Marco Boschinis (1660) erinnert, so ist der Gedanke nicht völlig abzuweisen, daß Carlo sich der Ironie und
der Hoffnungslosigkeit, die der Virtus-Stich verkörpert, bewußt gewesen war.

*
Als Maratta im Jahre 1713, nahezu 90 Jahre alt, starb, war ein ungemein rühriges, in seinen Intentionen unendlich
klar vorgestecktes Künstlerwirken zur Rüste gegangen. Durch ein ganzes Leben seine Lehrsätze und seine Kunst-
meinung praktisch und theoretisch mit der ihm innewohnenden Folgerichtigkeit und Strenge verkündend und verteidigend,
erlangen er und die große Zahl seiner Schüler, die seine ästhetischen Gedanken über'ganz Italien verbreiten, eine künst-
lerische Machtstellung ohnegleichen.2 Mag diese Hegemonie schon lange vorbereitet gewesen sein, ihren Höhepunkt

1 Vgl. als Gegenbeispiel die Fresken Domenichinos in der Villa Aldobrandini. (H. Tietze in d. Festschrift f. d. Grafen Lanckororiski, Wien 1918.)

2 Vgl- Fiori d'ingegno per la effigie della Primavera, Quadro di Carlo Maratta, Venezia 1685.

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