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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.4139#0018
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dei Berliner Studien, die die Formen auflöst, ist noch nichts in ihm, er ist
noch durchwegs plastisch empfunden. Die Parallele zu seiner Gewand-
behandlung liegt nicht in der Stuppacher Madonna, sondern in der des
Isenheimers Altars und im Antonius des Besuchhildes. Wie bei diesen ge-
malten Gewandmassen ist hierbei den gezeichneten jede Einzelform klar
heraus gearbeitet, herrscht eine unerschöpfliche Freude, die Form durch
Aus- und Einbuchtungen so reich als möglich zu beleben. Nicht, wie
Hagen vorgibt, zwischen der Göttinger Antonius-Zeichnung und dem
Blatt der Albertina, sondern zwischen diesem und dem Berliner knienden
König oder Engel bestehen wesentliche Unterschiede in der Formauf-
lassung. In klaren einfachen Linien fallt hier das Gewand herab und erst
am Boden staut es sich zu reichem Gefältel, bei den Antonius-Studien
hingegen und dem Wiener Heiligen ist es von Anbeginn an knittrig und
jede gerade klare Linienführung wird durch Überschneidungen und
Brüche vermieden. Auch die knorrigen Formen der Baumstamme und
-wurzeln hinter dem sogenannten Josef — was tun die bei einer Epi-
phanie? — stehen der Landschaftsauffassung des Isenheimer Altars
\iel näher als der Stuppacher Madonna. Hat nun vollends Mederi recht,
wenn er in der von ihm entdeckten Rückseite der Albertinazeichnung
eine Vorstudie zum stehenden Antonius in Colmar erblickt, was wir wegen
des merkwürdigen, als Griffstück des Kreuzstabes wohl nur mangelhaft
gedeuteten Attributs in der Linken des Heiligen noch dahingestellt lassen
wollen, so wäre die Entstehung der Wiener Zeichnung zur Zeit des Isen-
heimer Altars auch durch äußere Gründe so gut wie bewiesen. Auch
die Zeichnung des knienden Mannes in Berlin scheint mir kaum zum
Maria Schnee-Altar zu gehören. Sie ist zwar offensichtlich reifer als die
Albertinazeichnung, das Formgefühl ist geklärter, die Gewanddrapierung
übersichtlicher, aber sie ist noch durchwegs plastisch und nicht in dem
vor 1520 einsetzenden Flachenstil empfunden, es fehlt ihr die auflösende
Weichheit des knienden Engels oder Königs und der Madonna.

Was soll man aber schließlich dazu sagen, wenn Hagen aus den
beiden Köpfen des Berliner Kabinetts, die wieder Vor- und Rückseite eines
Blattes bilden, und dem von Schmid als Original bezweifelten und in die
Nahe der Münchner Verspottung von 1503 gerückten Schergen im Louvre
mit der falschen Jahreszahl 1513 ein ganzes Bild rekonstruiert und es mit
dem in Reitzmanns Testament von 1514 bestellten Altarbild von Uskem
(Oberissigbeim) in Verbindung bringt, »auf dem zwar, der Urkunde
nach, außer der glorreichen Jungfrau, nur die beiden Hauptheiligen
Vmzentius und Hieronymus als Assistenzfiguren darzustellen waren,
von dem wir aber angesichts der damals noch so dramatischen Schilde-
rungsweise Grünewalds so gut wie gewiß erwarten dürfen, daß — auf
den Flügeln wahrscheinlich — auch aus der ungemein aufregenden
Legende des Vinzentius ein spannendes Erlebnis zu schildern war-. Da
man auch mit bestem Willen aus dem Jünglingskopf — wahrscheinlich
ist es sogar der eines Mädchens — in dem von direkter »Iionardischer
Beeinflussung« nichts zu erkennen ist, ebensowenig den Stoizismus eines
Gemarterten herauslesen kann, wie das bisher stets als das eines Sänger-
knaben gedeutete Antlitz »den Ausdruck von knirschender sinnloser
Wut« wiedergibt, brauchen wir uns wohl mit Hagens phantasiereicher
Ausdeutung der Urkunde über den Uskemer Altar nicht näher zu befassen.
Unter den Abbildungen vermißt man die beiden Kohlenzeichnungen
des Crucifixus in Karlsiuhe und Basel. Hier scheint der Verfasser —
soweit ich ohne Autopsie des Karlsruher Blattes befugt bin, zu urteilen —
richtig gesehen zu haben, als er dieses als Kopie bezeichnete. Er hat
auch mit Recht betont, daß die Einordnung dieses Gekreuzigten zwischen
die Basler und die Isenheimer Tafel nicht befriedigt. Auch seine Zweifel
an der Autorschaft Grünewalds an der Basler Zeichnung sind nicht
unberechtigt und es erschiene mir wohl möglich, daß beide Blätter aut
ein verloren gegangenes Original zurückgehen. Trotzdem hatte in einem
Buche, das sämtliche Abbildungen der Werke des Meisters, auch der
Kopien bringt, diese Gestaltung des Crucifixus nicht fehlen dürfen.
Leider vermissen wir auch die Publikation und Würdigung der beiden
späten wundervollen Studien, die Beckers in der Sammlung Speck-
Sternburg in Lützschena aufgefunden hat. Der Verfasser hat freilich in

1 Die Graphischen Künste, 1920, S. 1 f.

" Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. XXV,

seinem Vorwort auseinandergesetzt, daß buchtechnische Grunde nach-
trägliche Textveränderungen während der langwierigen Drucklegung
verboten, so daß er die seit dem Abschluß seines Manuskriptes er-
schienenen Veröffentlichungen nicht mehr berücksichtigen konnte, ich
glaube aber, es ist keine unbillige Forderung an eine Monographie, deren
Vorwort vom 1. März 1918 datiert ist, daß sie zwei 1914 entdeckte und
publizierte Hauptwerke des Meisters aufnehme.

Zusammenfassend muß man von dem Buche leider sagen, daß es
durchwegs verfehlt ist. Der Verfasser ist sich über den »Nerv seiner
Schrift« leider völlig im unklaren, er hat nicht jedes einzelne der Kunst-
werke »als augensinnlich bestimmten Organismus« zu sich sprechen
lassen, sondern unhaltbare Hypothesen willkürlich in diese hineingetragen
und sich damit von der »innersten Wesensart der Kunstwerke« zumeist
mehr entfernt als sich ihr genähert. Dies ist umso bedauerlicher, als der im
Anhang enthaltene kritische Katalog mit Akribie und Präzision gearbeitet
i^t und übersichtlich alles Tatsächliche zusammenstellt. Für die ursprüng-
liche Bestimmung und Lokalisierung der Münchner Verspottung aber
hat Hagen neue Anhaltspunkte aufgedeckt, was als einziges positives
Verdienst hier gerne gebucht werden soll.

Höchstes Lob aber gebührt dem Verleger, der das Buch
geschmackvoll und auf gutes Papier gedruckt und mit einer Fülle
ausgezeichneter Klischees geschmückt hat. Er hat die Chance der
provisorischen Überführung des Isenheimer Altars während des Krieges
nach München ausgenützt und diesen im großen Format völlig neu
aufnehmen lassen. Vor allem die zahlreichen Details sind von muster-
gültiger Schärfe. Ludwig Baldass.

Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod
des Cornets Christoph Rilke. Zwölf Lithographien von
Erich Thum. Dresden, Verlag Emil Richter, s. a. (1918).

Die vorliegenden Steinzeichnungen gelten dem Werke eines
Dichters, der sich im Reiche der bildenden Kunst ein besonderes Heimats-
recht erworben hat. Im vertrauten Umgänge mit der Gestaltenwelt eines
großen Bildhauers suchte und fand er »die Gnade der großen Dinge«, die
ihn zum Mittler ihrer Erscheinungsformen berief. Dem Rodin-Buchc
folgte die den Worpsweder Malern gewidmete Künstlermonographie,
die schon um ihrer wundervollen Einleitung willen weit über ihren
ursprünglichen Anlaß hinaus an Bedeutung gewinnt. Von Landschaft und
Landschaftsmalerei weiß der Sprachgewaltige viel Wesenhafteres aus-
zusagen als irgendeines der von ihm so liebevoll verherrlichten Bilder.
Hier wie dort offenbart sich Rilkes unvergleichliche Einfühlungsgabe,
die weiterhin die Meisterschaft seiner Nachdichtungen fremdsprachliche!
Werke begründet. Haben in diesen beiden Buchern Themen bild-
künstlerischer Natur ihre darstellende Verarbeitung gefunden, so
entzündet sich auch die Phantasie des Lyrikers immer wieder an
Eindrücken, die ihrem Gebiete entstammen. Nicht etwa nur in dem Sinne,
daß sie seinen Stofflireis dauernd bereichein; die Erlebniswerte, die er
\ on Werken der bildenden Kunst empfing, liegen in seinem autonomen
dichterischen Schaffen weit tiefer verankert. Der Schöpfer des >Buches
der Bilder* verdankt ihnen vor allem die Un mittel barkeit der Anschauung
und die Gleichniskraft seiner edel durchgebildeten Sprache, an ihnen
erwächst jene Fähigkeit klaren und reinen Gestaltens, die seinen Bruder
vom mönchischen Leben überwältigend durchdringt: »Mir zittern die
Sinne. Ich fühle: ich kann — und ich fasse den plastischen Tag«.

Vermögen derartige Dichtungen der bildenden Kunst nun
ihrerseits die Anregungen zu vergelten, die sie jener in so reichem
Maße schulden? Die naheliegende Annahme, als seien sie kraft der
eben betonten Eigenschaften hiefür besonders vorbestimmt, erhalt
keinerlei Bestätigung. Vielmehr ist es gerade Rilkes starke Bildhaftigkeit,
die seine Werke zumindest der Illustration im landläufigen Sinne vor-
enthält. Wem diese Behauptung allzu paradox erscheint, der sei auf ein
verwandtes Problem aus dem Gebiete der Tonkunst hingewiesen. Gerade
solche Dichtungen, deren Eigengehalt an musikalischen (rhythmischen,
klanglichen) Werten außerordentlich sinnfällig wird, pflegen sich dem
Versuche ihrer Vertonung am ehesten zu entziehen. Andernfalls begänne
hier von neuem ein für beide Teile gleich gefährlicher Wettstreit zweier
Künste, die einander vergeblich den Rang abzulaufen suchen; in der

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