Bilder keineswegs als Anreger derartiger Gemütsbewegungen zu gelten haben. Da schließlich auch die zwei Gestalten
im Texte des Traktats nicht vorgezeichnet sind, muß es vorerst als zweifelhaft erscheinen, daß man in ihnen die Ver-
körperung des Widerspiels von »Freude« und »Vernunft« erkennen und in dem Bild als Ganzem eine Allegorie des
Gedächtnisses erblicken dürfe.
Auch ein Zurückgreifen auf die »Officia« des Cicero, worin die Illustration ein zweites Mal verwertet und — wie
die vorige — durch einen beigefügten Reim erläutert wurde, führt uns in diesem Falle nicht zum Ziel, da der versifizierte
Kommentar das Bild in völlig andersartige Zusammenhänge fügt. Er lautet:
»Viel stendt mir werden hie bedeut Das ich so weyhslich darinn wel
Darumb mir mein vernunfft gebeut Damit mich böse rew nit quel.«
So stünde diesem Reim zufolge der Mann auf unserem Holzschnitt vor der Wahl, zu welchem Stand er sich
entschließen solle, und seine Nachbarin zur Rechten hätte als Personifikation der »Reue« oder der »Vernunft« zu gelten.
Doch offenbar ist diese Deutung falsch, denn jene Scheibenbilder können keinesfalls als Darstellung der Stände
angesehen werden, da es ein Unding wäre, daß das Baugewerke (Winkelmaß und Richtscheit, Hammer, Zange) und
die Musik (Harfe, Laute, Pfeife und Trompete) in ihren Attributen wiederholt vertreten, doch alle andern Stände, mit
Abb. 8. Hans Weiditz, Das Gedächtnis.
Nach dem Holzschnitt im Petrarka.
Ausnahme des Richters (Wage) und des Königs (Krone), vom Illustrator völlig übergangen sind, wie auch die Tier-
embleme keinen Sinn besäßen. Auch tragen in der traditionellen Allegorik die Personifikationen der »Reue« oder der
»Vernunft« niemals das Attribut der Folianten.
Diese durchgängigen Unstimmigkeiten zwischen Reim und Bild beweisen, daß dem Holzschnitt in dem »Cicero«
eine ganz willkürliche Interpretation gegeben wurde, wodurch zugleich die Tatsache erhärtet wird, daß diese Illustration
sinnwidrig für den »Cicero« verwendet ward, wonach ihre ursprüngliche Bestimmung zweifellos dem Glücksbuch galt.
Die Aufhellung des Sinnzusammenhanges, der unser Bild mit dem Petrarka-Text verbindet, vermittelt uns den
aufschlußreichsten Einblick in die Illustrationsmethode des Petrarka-Meisters. Denn die Keimzelle dieser Illustration ist
in der mit ganz kurzen Worten und wie nur ganz beiläufig ausgespielten Anekdote von Themistokles gegeben. Dort
findet sich in eingeklammerter Unscheinbarkeit, nur marginalienhaft notiert der Name des Simonides. Und dieser Name
gibt den Schlüssel zu der Bilderklärung. Simonides galt den Rhetoren der Antike als der Erfinder der Mnemonik, der
Gedächtniskunst. Und der »Ars memorandi«, einer Wissenschaft, welche im Humanismus sehr in Blüte stand, ist denn
auch unser Holzschnitt zugeeignet.
Unter den mannigfaltigen Traktaten, welche das 15. und 16. Jahrhundert der Mnemonik widmete — J. Chr. Frei-
herr von Aretin hat sie in seiner grundlegenden Abhandlung bibliographisch registriert1 —, kommt hauptsächlich Jacob
f J. Chr. Freiherr von Aretin: Systematische Anleitung zur Theorie und Praxis der Mnemonik nebst den Grundlinien zur Geschichte und
Kritik dieser Wissenschaft (1810), S.97ff. — Für den Hinweis auf die mnemonische Literatur und für die förderndste Beratung bei der Erklärung dieser
Illustration schulde ich Herrn Geheimrat Ludwig Volkmann allen Dank.
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im Texte des Traktats nicht vorgezeichnet sind, muß es vorerst als zweifelhaft erscheinen, daß man in ihnen die Ver-
körperung des Widerspiels von »Freude« und »Vernunft« erkennen und in dem Bild als Ganzem eine Allegorie des
Gedächtnisses erblicken dürfe.
Auch ein Zurückgreifen auf die »Officia« des Cicero, worin die Illustration ein zweites Mal verwertet und — wie
die vorige — durch einen beigefügten Reim erläutert wurde, führt uns in diesem Falle nicht zum Ziel, da der versifizierte
Kommentar das Bild in völlig andersartige Zusammenhänge fügt. Er lautet:
»Viel stendt mir werden hie bedeut Das ich so weyhslich darinn wel
Darumb mir mein vernunfft gebeut Damit mich böse rew nit quel.«
So stünde diesem Reim zufolge der Mann auf unserem Holzschnitt vor der Wahl, zu welchem Stand er sich
entschließen solle, und seine Nachbarin zur Rechten hätte als Personifikation der »Reue« oder der »Vernunft« zu gelten.
Doch offenbar ist diese Deutung falsch, denn jene Scheibenbilder können keinesfalls als Darstellung der Stände
angesehen werden, da es ein Unding wäre, daß das Baugewerke (Winkelmaß und Richtscheit, Hammer, Zange) und
die Musik (Harfe, Laute, Pfeife und Trompete) in ihren Attributen wiederholt vertreten, doch alle andern Stände, mit
Abb. 8. Hans Weiditz, Das Gedächtnis.
Nach dem Holzschnitt im Petrarka.
Ausnahme des Richters (Wage) und des Königs (Krone), vom Illustrator völlig übergangen sind, wie auch die Tier-
embleme keinen Sinn besäßen. Auch tragen in der traditionellen Allegorik die Personifikationen der »Reue« oder der
»Vernunft« niemals das Attribut der Folianten.
Diese durchgängigen Unstimmigkeiten zwischen Reim und Bild beweisen, daß dem Holzschnitt in dem »Cicero«
eine ganz willkürliche Interpretation gegeben wurde, wodurch zugleich die Tatsache erhärtet wird, daß diese Illustration
sinnwidrig für den »Cicero« verwendet ward, wonach ihre ursprüngliche Bestimmung zweifellos dem Glücksbuch galt.
Die Aufhellung des Sinnzusammenhanges, der unser Bild mit dem Petrarka-Text verbindet, vermittelt uns den
aufschlußreichsten Einblick in die Illustrationsmethode des Petrarka-Meisters. Denn die Keimzelle dieser Illustration ist
in der mit ganz kurzen Worten und wie nur ganz beiläufig ausgespielten Anekdote von Themistokles gegeben. Dort
findet sich in eingeklammerter Unscheinbarkeit, nur marginalienhaft notiert der Name des Simonides. Und dieser Name
gibt den Schlüssel zu der Bilderklärung. Simonides galt den Rhetoren der Antike als der Erfinder der Mnemonik, der
Gedächtniskunst. Und der »Ars memorandi«, einer Wissenschaft, welche im Humanismus sehr in Blüte stand, ist denn
auch unser Holzschnitt zugeeignet.
Unter den mannigfaltigen Traktaten, welche das 15. und 16. Jahrhundert der Mnemonik widmete — J. Chr. Frei-
herr von Aretin hat sie in seiner grundlegenden Abhandlung bibliographisch registriert1 —, kommt hauptsächlich Jacob
f J. Chr. Freiherr von Aretin: Systematische Anleitung zur Theorie und Praxis der Mnemonik nebst den Grundlinien zur Geschichte und
Kritik dieser Wissenschaft (1810), S.97ff. — Für den Hinweis auf die mnemonische Literatur und für die förderndste Beratung bei der Erklärung dieser
Illustration schulde ich Herrn Geheimrat Ludwig Volkmann allen Dank.
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