tritt als entscheidend die geringe Qualität der vier Lithographien hinzu, die nichts mit den typischen Merkmalen und
Unbeholfenheiten lithographischer Frühdrucke zu tun hat. Ein Vergleich mit den herrlichen Zeichnungen Ingres' aus
der Zeit von 1814 bis 1816, die Lapauze in großer Anzahl veröffentlichte,1 und den Lithographien, die doch nur
geschickte Kopistenarbeiten sind, läßt Delteils Begeisterung kaum verständlich erscheinen, der von diesen vier Blättern
behauptete, sie wären von einer solchen Schönheit und Klarheit, daß sie selbst für weniger kundige Augen alle litho-
graphischen Versuche dieser Zeit in den Schatten stellten.2 Die Zeichnungen mögen es getan haben, die Lithographien
vermögen es schon darum nicht, weil sie dieser Zeit gar nicht mehr angehören, sondern erst viele Jahre später entstanden
sind. Friedländer3 hat das Richtige geahnt und die vier Blätter, die zwar »ausgezeichnet, aber schließlich nichts als die
Wiedergabe (!) einer noch schöneren, klaren und reinen Handzeichnung« sind, wesentlich kühler und kritischer beurteilt.
Eine Replik des Bildnisses von Frederic Sylvester Douglas4 (D.6,Abb. 2), die Delteil trotz einiger Bedenken in sein Ver-
zeichnis aufnahm und dem Werke Ingres' einverleibte, ist noch viel weniger eine Originalarbeit des Künstlers
als die englischen Lithographien, da dieses Blatt nicht mehr nach der römischen Zeichnung Ingres', sondern schon
nach der entsprechenden Londoner Reproduktionslithographie (D. 5) kopiert wurde, mit der diese Wiederholung in allen
und besonders in allen unwesentlichen Details vollkommen übereinstimmt.5 Das Blatt ist fast als Copie trompeuse zu
bezeichnen; und es ist ganz unmöglich, daß Ingres eine eigene Arbeit so subaltern und getreu kopiert haben sollte,
die zwar noch immer das Datum 1815 aufweist, aber, an Stelle der verräterischen Londoner Adresse, nun unver-
kennbar den Stil eines routinierten Lithographen der dreißiger Jahre zeigt, in dem Gräff, der das Blatt aus seinem Ver-
zeichnis der italienischen Lithographie-Inkunabeln ausschied,6 mit viel Wahrscheinlichkeit Achille Deveria zu erkennen
glaubte.
Eine sechste Bildnislithographie (D. 7, Abb.4) hat Delteil mit Recht als Arbeit Ingres' erkannt und festgelegt. Sie ist das
erste und zugleich das letzte lithographische Porträt des Künstlers und ist tatsächlich noch in Rom entstanden, aber nicht
nach 1815, wie Delteil vermutet haben mag, der das Blatt erst nach den englischen Bildnissen einordnete, sondern schon
vier Jahre vor Entstehung der englischen Porträtzeichnungen. Damals muß auch Dall'Armis Anstalt, wenn auch nur mehr in
sehr bescheidenem Umfang, noch in Tätigkeit gewesen sein, während sie schon im folgenden Jahre, wie aus Peignots
»Essai Historique« hervorgeht, ihren Betrieb ganz eingestellt hatte und 1815 sicherlich sogar schon vergessen war. Denn
ein französischer, wahrscheinlich sogar von einer Ingres nahestehenden Seite stammender Bericht aus Rom im
»Annuaire de l'Industrie Francaise«7 vom Jahre 1811 besagt: »J'ai vu ä Rome decalquer lithographiquement des dessins
colories, des miniatures etc.« Die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung des ersten lithographischen Versuches
Ingres', nämlich das Vorhandensein einer römischen Druckerei im Jahre 1811, steht durch diese Nachricht unzweifelhaft
fest. Aber noch zwei andere Momente, der stilistische Vergleich mit Zeichnungen Ingres' aus dieser Zeit und die Fest-
stellung der dargestellten Persönlichkeit, die Delteil nicht identifizieren konnte, ermöglichen eine absolut präzise Datierung
und Bestimmung des Blattes. Zunächst ein Vergleich der Lithographie mit den Zeichnungen, die in Rom zwischen 1809
und 1813 entstanden. Sie haben durchaus denselben strengen, nur wenig modellierenden Zeichnungsstil wie die Litho-
graphie, der vielfach noch an klassizistische Umrißzeichnungen und Stiche erinnert. Erst um 1814 tritt im Zeichnungs-
stil Ingres' ein entscheidender Wandel ein, der sich in dem Streben nach größerer Räumlichkeit und plastischer Model-
lierung äußert. Die Gestalten werden runder und körperlicher, sie verlieren die reliefartige Flächenhaftigkeit, und diese
zeichnerische Entwicklungsstufe, die noch in der Übertragung der Reproduktionslithographien zum Ausdruck kommt,
repräsentieren die vier englischen Porträte.
Durch die Identifizierung des Dargestellten wird die Datierung und Lokalisierung des kleinen lithographischen
Bildnisversuches vollkommen gesichert. Ingres hat seinen Landsmann, den durch seine Geschichte Napoleons nachmals
berühmt gewordenen Historiker Baron Jacques Norvins gezeichnet,8 der 1810 als »directeur general, Charge de la police
1 Vergleiche den Artikel Ingres von Hans Vollmer in Thieme-Beckers Künstlerlexikon, XIX., S. 8/9.
- Delteil, Manuel de l'Amateur, I., p. 66.
3 M. J. Friedländer, Die Lithographie. Berlin 1922, S. 28.
i Charles Blanc, Ingres, sa vie et ses ouvrages. Paris 1870, erwähnt das Blatt S. 246 als »portrait au crayon lithographie en facsimile (!)«,
während es Vte Henri Delaborde, Ingres sa vie, ses travaux, sa doctrine etc. Paris 1870. Nr. 431, ebenso wie Henri Beraldi, Les graveurs du
XIXe siecie. T. VIII, Paris 1889 (Nr. 3), und Georges Duplessis, Une lithographie inconnue de J. A. D. Ingres, als Originalwerk Ingres' anerkennt.
5 Auch die Schrift stimmt fast genau überein; nur hat D. 6 an Stelle der englischen Schreibart »Frederic« die französische »Frederic«, woraus
ebenfalls auf die französische Provenienz dieses Blattes geschlossen werden kann. Die Abbildung Nr. 2 nach einem von Delteil im Anhang beschrie-
benen Probedruck vor der Schrift (Albertina).
6 Walter Gräff, Die Einführung der Lithographie in Italien, S. 328 und S. 334.
7 Artikel »Gravüre sur pierre«.
8 Nouvelle Biographie generale etc. T. 38. Paris 1862, p. 291 2. Die Identifizierung konnte schon Curt Glaser, Die Graphik der Neuzeit,
Berlin 1922, S. 81, vornehmen, der das von alter Hand mit dem Namen des Dargestellten bezeichnete Exemplar des Berliner Kupferstichkabinetts
abbildet. Glasers Urteil über »die sechs Bildnisse, die Jean Dominique Ingres im Jahre 1815 in Rom auf den Stein gezeichnet hat«, deckt sich voll-
kommen mit Delteils Urteil über die Blätter: ». .. sie gehören in der Schärfe und Präzision des Striches, der Sicherheit der Formgebung, der Beherr-
schung der Mittel, die niemals eine Linie oder einen Schatten mehr gibt, als die Charakteristik erfordert, zu den Meisterleistungen klassischer
Zeichenkunst«.
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Unbeholfenheiten lithographischer Frühdrucke zu tun hat. Ein Vergleich mit den herrlichen Zeichnungen Ingres' aus
der Zeit von 1814 bis 1816, die Lapauze in großer Anzahl veröffentlichte,1 und den Lithographien, die doch nur
geschickte Kopistenarbeiten sind, läßt Delteils Begeisterung kaum verständlich erscheinen, der von diesen vier Blättern
behauptete, sie wären von einer solchen Schönheit und Klarheit, daß sie selbst für weniger kundige Augen alle litho-
graphischen Versuche dieser Zeit in den Schatten stellten.2 Die Zeichnungen mögen es getan haben, die Lithographien
vermögen es schon darum nicht, weil sie dieser Zeit gar nicht mehr angehören, sondern erst viele Jahre später entstanden
sind. Friedländer3 hat das Richtige geahnt und die vier Blätter, die zwar »ausgezeichnet, aber schließlich nichts als die
Wiedergabe (!) einer noch schöneren, klaren und reinen Handzeichnung« sind, wesentlich kühler und kritischer beurteilt.
Eine Replik des Bildnisses von Frederic Sylvester Douglas4 (D.6,Abb. 2), die Delteil trotz einiger Bedenken in sein Ver-
zeichnis aufnahm und dem Werke Ingres' einverleibte, ist noch viel weniger eine Originalarbeit des Künstlers
als die englischen Lithographien, da dieses Blatt nicht mehr nach der römischen Zeichnung Ingres', sondern schon
nach der entsprechenden Londoner Reproduktionslithographie (D. 5) kopiert wurde, mit der diese Wiederholung in allen
und besonders in allen unwesentlichen Details vollkommen übereinstimmt.5 Das Blatt ist fast als Copie trompeuse zu
bezeichnen; und es ist ganz unmöglich, daß Ingres eine eigene Arbeit so subaltern und getreu kopiert haben sollte,
die zwar noch immer das Datum 1815 aufweist, aber, an Stelle der verräterischen Londoner Adresse, nun unver-
kennbar den Stil eines routinierten Lithographen der dreißiger Jahre zeigt, in dem Gräff, der das Blatt aus seinem Ver-
zeichnis der italienischen Lithographie-Inkunabeln ausschied,6 mit viel Wahrscheinlichkeit Achille Deveria zu erkennen
glaubte.
Eine sechste Bildnislithographie (D. 7, Abb.4) hat Delteil mit Recht als Arbeit Ingres' erkannt und festgelegt. Sie ist das
erste und zugleich das letzte lithographische Porträt des Künstlers und ist tatsächlich noch in Rom entstanden, aber nicht
nach 1815, wie Delteil vermutet haben mag, der das Blatt erst nach den englischen Bildnissen einordnete, sondern schon
vier Jahre vor Entstehung der englischen Porträtzeichnungen. Damals muß auch Dall'Armis Anstalt, wenn auch nur mehr in
sehr bescheidenem Umfang, noch in Tätigkeit gewesen sein, während sie schon im folgenden Jahre, wie aus Peignots
»Essai Historique« hervorgeht, ihren Betrieb ganz eingestellt hatte und 1815 sicherlich sogar schon vergessen war. Denn
ein französischer, wahrscheinlich sogar von einer Ingres nahestehenden Seite stammender Bericht aus Rom im
»Annuaire de l'Industrie Francaise«7 vom Jahre 1811 besagt: »J'ai vu ä Rome decalquer lithographiquement des dessins
colories, des miniatures etc.« Die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung des ersten lithographischen Versuches
Ingres', nämlich das Vorhandensein einer römischen Druckerei im Jahre 1811, steht durch diese Nachricht unzweifelhaft
fest. Aber noch zwei andere Momente, der stilistische Vergleich mit Zeichnungen Ingres' aus dieser Zeit und die Fest-
stellung der dargestellten Persönlichkeit, die Delteil nicht identifizieren konnte, ermöglichen eine absolut präzise Datierung
und Bestimmung des Blattes. Zunächst ein Vergleich der Lithographie mit den Zeichnungen, die in Rom zwischen 1809
und 1813 entstanden. Sie haben durchaus denselben strengen, nur wenig modellierenden Zeichnungsstil wie die Litho-
graphie, der vielfach noch an klassizistische Umrißzeichnungen und Stiche erinnert. Erst um 1814 tritt im Zeichnungs-
stil Ingres' ein entscheidender Wandel ein, der sich in dem Streben nach größerer Räumlichkeit und plastischer Model-
lierung äußert. Die Gestalten werden runder und körperlicher, sie verlieren die reliefartige Flächenhaftigkeit, und diese
zeichnerische Entwicklungsstufe, die noch in der Übertragung der Reproduktionslithographien zum Ausdruck kommt,
repräsentieren die vier englischen Porträte.
Durch die Identifizierung des Dargestellten wird die Datierung und Lokalisierung des kleinen lithographischen
Bildnisversuches vollkommen gesichert. Ingres hat seinen Landsmann, den durch seine Geschichte Napoleons nachmals
berühmt gewordenen Historiker Baron Jacques Norvins gezeichnet,8 der 1810 als »directeur general, Charge de la police
1 Vergleiche den Artikel Ingres von Hans Vollmer in Thieme-Beckers Künstlerlexikon, XIX., S. 8/9.
- Delteil, Manuel de l'Amateur, I., p. 66.
3 M. J. Friedländer, Die Lithographie. Berlin 1922, S. 28.
i Charles Blanc, Ingres, sa vie et ses ouvrages. Paris 1870, erwähnt das Blatt S. 246 als »portrait au crayon lithographie en facsimile (!)«,
während es Vte Henri Delaborde, Ingres sa vie, ses travaux, sa doctrine etc. Paris 1870. Nr. 431, ebenso wie Henri Beraldi, Les graveurs du
XIXe siecie. T. VIII, Paris 1889 (Nr. 3), und Georges Duplessis, Une lithographie inconnue de J. A. D. Ingres, als Originalwerk Ingres' anerkennt.
5 Auch die Schrift stimmt fast genau überein; nur hat D. 6 an Stelle der englischen Schreibart »Frederic« die französische »Frederic«, woraus
ebenfalls auf die französische Provenienz dieses Blattes geschlossen werden kann. Die Abbildung Nr. 2 nach einem von Delteil im Anhang beschrie-
benen Probedruck vor der Schrift (Albertina).
6 Walter Gräff, Die Einführung der Lithographie in Italien, S. 328 und S. 334.
7 Artikel »Gravüre sur pierre«.
8 Nouvelle Biographie generale etc. T. 38. Paris 1862, p. 291 2. Die Identifizierung konnte schon Curt Glaser, Die Graphik der Neuzeit,
Berlin 1922, S. 81, vornehmen, der das von alter Hand mit dem Namen des Dargestellten bezeichnete Exemplar des Berliner Kupferstichkabinetts
abbildet. Glasers Urteil über »die sechs Bildnisse, die Jean Dominique Ingres im Jahre 1815 in Rom auf den Stein gezeichnet hat«, deckt sich voll-
kommen mit Delteils Urteil über die Blätter: ». .. sie gehören in der Schärfe und Präzision des Striches, der Sicherheit der Formgebung, der Beherr-
schung der Mittel, die niemals eine Linie oder einen Schatten mehr gibt, als die Charakteristik erfordert, zu den Meisterleistungen klassischer
Zeichenkunst«.
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