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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.6492#0034
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Parallele zwischen dem Christus der Vorhölle und dem der wunderbaren Heilung davor warnen, aus gleichen Formen
auf den gleichen Gegenstand zu schließen. Die beiden stark bewegten Figuren sind eben aus der gleichen echt mittel-
alterlichen Bildformel heraus gewachsen.

3. Das Verhältnis des Musterbuches zum Evangeliar.

Der Vergleich unserer Evangelistengruppe auf Abbildung III und [V mit jener der Goslarer Miniaturen bestätigt die
erstaunliche Treue des mittelalterlichen Similes und gibt zugleich einen Einblick in die weitere Verwendung und Aus-
gestaltung eines Exemplums.

Die beiden Johannesfiguren stimmen vollständig genau miteinander überein; im Evangeliar erscheint die hohe
Rückenlehne des Stuhles wegen der dahinter liegenden Architektur verkürzt. Vor allem aber strebt hier das reiche Gefält
links unten vor dem Sitze in heftiger Bewegung der linken Ecke zu — gewiß ein eindrucksvolles Motiv, aber zugleich
ein sinnwidriges, in dem sich abendländische Phantasie verrät. Denn solche Falten müssen logischerweise senkrecht
fallen; tatsächlich folgen sie im Musterbuch bei allen vier Evangelisten ihrem natürlichen Laufe und weisen damit auf
ein naturgetreueres, das heißt ein byzantinisches Vorbild. Auffällig genau stimmen auch die Bilder des heiligen Matthäus
miteinander überein (Abb. III, rechts, u. 3). Nur finden wir im Musterbuch symmetrische Doppelgruppen, während im
Evangeliar die Dargestellten stets im Sinne der Schrift von links nach rechts angeordnet sind; deshalb erscheint hier der
Schreiber seitenverkehrt und hält, wie dort die Feder in der rechten, nun den Polierstift in der linken Hand. An der
Stelle, wo dort das Tischlein steht und eine seltsame Verbindung mit dem Gewände eingeht, ragt hier das rechte Bein
unvermittelt in die Luft und stützt das Triptychon — beidemal ein Stücklein mißverstandenen Vorbildes! Am bedeut-
samsten wird der Unterschied in der Haartracht: statt der sorgfältig gereihten Locken finden wir in der Miniatur eine
struppige Perücke; während alle vier Apostel des Musterbuches nicht nur in den Stellungen, sondern auch in der Bildung
der Haare verschieden sind, tragen drei Schreiber des Evangeliars alle denselben Schopf und Bart, den man auch bei
den übrigen Figuren der Handschrift häufig wiederkehren sieht. Unser Meister folgt auch hier genau der byzantinischen
Überlieferung, die ihre Exempla bis in die kleinsten Dinge hinein differenziert. Der Goslarer Maler jedoch setzt an die
Stelle von vielen aus der Natur gewählten Einzellösungen eine einzige Formel. Diese trägt den Charakter seiner persön-
lichen Handschrift — eine für das Abendland typische Erscheinung! Der Matthäus des Evangeliars (Abb. 4 b) weicht von
dem Lukas des Musterbuches (links auf Abb. IV) vor allem darin ab, daß er beide Hände auf dem Schreibpult beschäftigt.
Die Gestalt wirkt kleinlich und gedrückt, da ihr das Buch im Schöße fehlt und die Knie unnatürlich hochgezogen sind.
Die Lukasbilder endlich gleichen sich nur noch in der Stellung der Beine — wiederum ist im Evangeliar das Buch der
Verkündigung beiseite gelassen.

Es zeigen demnach beide Manuskripte dieselben byzantinischen Typen, und zwar steht ihnen der Wolfenbüttler
Maler näher, der die Frisuren mit größerer Variation, die Gewänder mit schärferer Logik wiedergibt. Mithin läßt sich das
Musterbuch nicht von dem Goslarer Evangeliar ableiten, und es bleibt nur die Frage: ist das Verhältnis umgekehrt, oder
gehen beide mehr oder weniger unabhängig auf denselben Ahnen zurück?

Fände sich bei beiden Handschriften das gleiche Mißverständnis einer Vorlage, so wäre bewiesen, daß der Goslarer
Meister die byzantinischen Bilder nicht direkt, sondern nach dem Wolfenbüttler Musterbuche kopiert hätte. Kleinere Züge
sprechen dafür: bei Joseph von Arimathia fehlt im Musterbuche (Abb. II) der rechte FTiß; er wird im Evangeliar (Abb. 1)
ergänzt, aber derart falsch verstanden, daß er nicht mehr mit dem zugehörigen Bein zusammentrifft; aus dem Bausch
des Ärmels dieser Skizze wird in der Miniatur ein buntes, undefinierbares Stück Tuch, das in der Art eines Mantels von
der Schulter herunter am Arme und am Körper vorbeifallt, ohne daß man genau sieht, woher es kommt; auf das rechte
Bein des Matthäus (Abb. III und 3), das in Wolfenbüttel mit dem Schreibtische vermengt und auch in Goslar unklar ist,
haben wir bereits hingewiesen; andrerseits fehlt bei diesem Exemplum der unterste Gewandzipfel rechts (Abb. III) und ist
er beimGegenbild(Abb.3) richtig ergänzt, was wieder für eine selbständige Übernahme eines Vorbildes spricht. Ebensowenig
läßt sich das Gegenteil beweisen, daß nämlich der Goslarer Meister unabhängig vom Wolfenbüttler Byzantinismen aufge-
nommen habe, die bei dem letzteren nicht vorhanden sind. Zwar kennt das Evangeliar eine Anzahl von östlichen Typen,
die wir im Musterbuche nicht finden — doch kann das davon herkommen, daß das letztere nur unvollständig erhalten
ist. In den Figuren jedoch, die sich vergleichen lassen, bleibt der Wolfenbüttler stets der Genauere, und die Abänderungen
in der Miniatur erweisen sich durchwegs als subjektive Umstilisierungen des Miniators. Im Musterbuche gleichwie im
Athosfresko thronen die Evangelisten auf massiven kubischen Sitzen neben ebensolchen Schemeln, Schränken, Tischen
und Pulten — im Evangeliar haben sie ein phantastisches Hausgerät um sich, eine Mischung aus westlichen und östlichen
Architekturformen, der aller Raumsinn, alle konstruktive Logik abgeht. Man achte etwa, wie der Schemel des Johannes
zwischen Tisch und Bank und einem fragwürdigen Streifen Erde (Patmos?) »schwebt« — und doch kommt eben diese
Fußbank aus Byzanz, wie das Wolfenbüttler Blatt beweist; nur sind hier auch die doppelten Ränder mitgezeichnet, die
das Fresko überall, das Evangeliar aber nur auf den Tischen kennt. Solche Einzelheiten gleichen mehr Erinnerungen an
byzantinische Kunst als Kopien. In Ermangelung äußerer Kennzeichen müssen wir das Verhältnis der beiden Handschriften
 
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