Beitrag
zu Italien und Dürer.
r.
Girolamo Romanino zugeschrieben, Christus und die Samariterin.
Zeichnung. Chatsworth.
An einer dem kunsthistorischen Leser völlig abge-
legenen Stelle, in der 1927 erschienenen Festschrift »30 Jahre
Frauenstudium in Österreich«, habe ich in knappem Rahmen
den Versuch gemacht, Dürers Schaffen zu den drei Stufen
seines Lebens in Beziehung zu setzen. »Dürer tritt in sein
zweites Lebensalter«, dessen Beginn ich mit der Reise nach
Venedig 1505 zusammenfallen ließ, bedeutet, wie immer im
Schaffensprozeß der künstlerischen Heroen, gleichzeitig die
Leistung, die über die enge Einflußsphäre von Werkstätte
und Heimat hinaus zur internationalen Wirkung sich durch-
setzen konnte. Dürer besaß — und gab — was das Italien
seiner Zeit nicht hatte. Ich denke nicht an die oft zitierte
Treue zum Einzelfall, wie man sie in der großartigen Häß-
lichkeit seiner »großen Fortuna« bewundert hat; denn dieser
vermeintliche Einzelfall ist schon längst als ein Versuch einer
Gesetzmäßigkeit erkannt worden, die eben nur eine andere
war als die geläufige des klassischen Kanons jenseits der
Alpen — lag doch der Einzelfall ebensowenig auf Dürers Weg,
wie er nach Italien hätte wirken können, das eben sein Jahr-
hundert des Einzelfalles überwunden hatte. Aber ich denke
an die Landschaft, die Dürer als das erschütternde Erlebnis
seiner Jugendjahre der Kunst erobert hat; an die Landschaft,
die nicht nur Schema ist und kompositioneller Faktor, die
nicht die Bühne ist, von der sich die Akteure Niveau und Folie
holen, sondern die Landschaft, in der es riecht nach Wald
und Bauerndorf, in der der Wind weht und das Licht atmet.
Die Landschaft, der Lionardos einsamer Erkenntnisdrang
zwar den Puls gefühlt, die Dürer aber für alle ergriffen und
gestaltet hat. Und ich denke insbesondere an die Landschaft
des Marienlebens, an den nordischen, also unbegrenzten
Raum, der draußen über die hohen Bergketten hinzieht und sich ebenso drinnen in der Enge eines Zimmers, eines Aus
Schnittes in der Kirche in die Unendlichkeit weitet. Und in dem Raum dann,
draußen und drinnen, die Masse der Figuren, auch sie nur Ausschnitt des
Unbegrenzten, wie sie in solchen Raum gehören. Blätter wie die Vermählung
.Mariens oder die Darstellung im Tempel, das sind Beispiele für diese neue Kunst,
die das vorausgegangene und das gleichzeitige Italien nicht gekannt hat; hier in
Italien wird der eindeutige und starkklingende Hauptakkord in der Architektur und
Darstellung zusammen angeschlagen, daneben sind die Statisten, jeder in seinem
Raumkompartiment, mit der ihm zukommenden Betonung, die in errechenbarer
Resonanz zum Hauptakkord steht; bei Dürer sinkt das Geschehnis zur Episode,
die Distanz in den unendlichen Raum hinein nimmt auch den Darstellern das Über-
gewicht, von rückwärts oder im verlorenen Profil nur treten die Hauptspieler auf,
und die Masse, über die Licht und Schatten ihre gewaltigen Rhythmen schieben,
wird Träger der Handlung. Noch nie war in Italien Masse so als Masse und nicht als
Addition von Menschen gesehen worden. Hier müßte auch in der italienischen
Kunst ein neues Kapitel beginnen, und seine Überschrift heißt Dürer.
Die Zeichnung »Christus und die Samariterin«, im Besitz des Herzogs von
Devonshire in Chatsworth, die Tancred Borenius im Juniheft 1927 der Old Master
Drawings (Tafel VI) veröffentlicht, scheint mir gerade in ihrer durchschnittlichen
Qualität eine treffende Illustration zu den hier niedergeschriebenen Gedanken zu
sein. Der Zeichner schloß an seine im klaren Dialog einander gegenübergesetzten Ausschnitt aus Dürers Holzschnitt B. 81.
1 Eine übersichtliche Zusammenfassung von Dürers Einwirkung und Nachleben in Italien gibt Arpad Weixlgärtner in seinem ausgezeichneten
Beitrag > Alberto Duro< in der Festschrift für Julius Schlosser (Wien 1926). Weitere Beiträge zu diesem Thema im Katalog der Dürerausstellung der
Mannheimer Kunsthalle 1928 und bei Theod. Hetzer, Das deutsche Element in der italienischen Malerei des sechzehnten Jahrhunderts, Berlin, 1929.
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zu Italien und Dürer.
r.
Girolamo Romanino zugeschrieben, Christus und die Samariterin.
Zeichnung. Chatsworth.
An einer dem kunsthistorischen Leser völlig abge-
legenen Stelle, in der 1927 erschienenen Festschrift »30 Jahre
Frauenstudium in Österreich«, habe ich in knappem Rahmen
den Versuch gemacht, Dürers Schaffen zu den drei Stufen
seines Lebens in Beziehung zu setzen. »Dürer tritt in sein
zweites Lebensalter«, dessen Beginn ich mit der Reise nach
Venedig 1505 zusammenfallen ließ, bedeutet, wie immer im
Schaffensprozeß der künstlerischen Heroen, gleichzeitig die
Leistung, die über die enge Einflußsphäre von Werkstätte
und Heimat hinaus zur internationalen Wirkung sich durch-
setzen konnte. Dürer besaß — und gab — was das Italien
seiner Zeit nicht hatte. Ich denke nicht an die oft zitierte
Treue zum Einzelfall, wie man sie in der großartigen Häß-
lichkeit seiner »großen Fortuna« bewundert hat; denn dieser
vermeintliche Einzelfall ist schon längst als ein Versuch einer
Gesetzmäßigkeit erkannt worden, die eben nur eine andere
war als die geläufige des klassischen Kanons jenseits der
Alpen — lag doch der Einzelfall ebensowenig auf Dürers Weg,
wie er nach Italien hätte wirken können, das eben sein Jahr-
hundert des Einzelfalles überwunden hatte. Aber ich denke
an die Landschaft, die Dürer als das erschütternde Erlebnis
seiner Jugendjahre der Kunst erobert hat; an die Landschaft,
die nicht nur Schema ist und kompositioneller Faktor, die
nicht die Bühne ist, von der sich die Akteure Niveau und Folie
holen, sondern die Landschaft, in der es riecht nach Wald
und Bauerndorf, in der der Wind weht und das Licht atmet.
Die Landschaft, der Lionardos einsamer Erkenntnisdrang
zwar den Puls gefühlt, die Dürer aber für alle ergriffen und
gestaltet hat. Und ich denke insbesondere an die Landschaft
des Marienlebens, an den nordischen, also unbegrenzten
Raum, der draußen über die hohen Bergketten hinzieht und sich ebenso drinnen in der Enge eines Zimmers, eines Aus
Schnittes in der Kirche in die Unendlichkeit weitet. Und in dem Raum dann,
draußen und drinnen, die Masse der Figuren, auch sie nur Ausschnitt des
Unbegrenzten, wie sie in solchen Raum gehören. Blätter wie die Vermählung
.Mariens oder die Darstellung im Tempel, das sind Beispiele für diese neue Kunst,
die das vorausgegangene und das gleichzeitige Italien nicht gekannt hat; hier in
Italien wird der eindeutige und starkklingende Hauptakkord in der Architektur und
Darstellung zusammen angeschlagen, daneben sind die Statisten, jeder in seinem
Raumkompartiment, mit der ihm zukommenden Betonung, die in errechenbarer
Resonanz zum Hauptakkord steht; bei Dürer sinkt das Geschehnis zur Episode,
die Distanz in den unendlichen Raum hinein nimmt auch den Darstellern das Über-
gewicht, von rückwärts oder im verlorenen Profil nur treten die Hauptspieler auf,
und die Masse, über die Licht und Schatten ihre gewaltigen Rhythmen schieben,
wird Träger der Handlung. Noch nie war in Italien Masse so als Masse und nicht als
Addition von Menschen gesehen worden. Hier müßte auch in der italienischen
Kunst ein neues Kapitel beginnen, und seine Überschrift heißt Dürer.
Die Zeichnung »Christus und die Samariterin«, im Besitz des Herzogs von
Devonshire in Chatsworth, die Tancred Borenius im Juniheft 1927 der Old Master
Drawings (Tafel VI) veröffentlicht, scheint mir gerade in ihrer durchschnittlichen
Qualität eine treffende Illustration zu den hier niedergeschriebenen Gedanken zu
sein. Der Zeichner schloß an seine im klaren Dialog einander gegenübergesetzten Ausschnitt aus Dürers Holzschnitt B. 81.
1 Eine übersichtliche Zusammenfassung von Dürers Einwirkung und Nachleben in Italien gibt Arpad Weixlgärtner in seinem ausgezeichneten
Beitrag > Alberto Duro< in der Festschrift für Julius Schlosser (Wien 1926). Weitere Beiträge zu diesem Thema im Katalog der Dürerausstellung der
Mannheimer Kunsthalle 1928 und bei Theod. Hetzer, Das deutsche Element in der italienischen Malerei des sechzehnten Jahrhunderts, Berlin, 1929.
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