Hauptgestalten eine gedrängte Zuschauer-
menge, in der jedes Glied sein bißchen
Einzelfall in der beherrschenden Gesamt-
heit verloren hat; eine Zuschauermenge,
die er Strich um Strich aus Dürers Holz-
schnitt B. 81 herauskopiert. Hier sind es
die Begleiter in »Mariae Tempelgang«;
der überbetonte Anschlag der heiligen
Anna mußte natürlich wegbleiben, aber
Josef, der als Rückenfigur sich ohnedies
unterordnete, konnte unverändert auf-
genommen werden. Weil aber dem
Zeichner die isokephale Anordnung der
Vorlage nicht behagte, füllte er sie nach
oben noch mit zwei leicht grotesken
Köpfen auf. die er — diesmal ein wenig
freier — aus Dürers älterem Holzschnitt
B. 9 bezog. Daß ein in Dürers »Ding«
so eingesehenes Auge dann auch noch
den Strich des Baumschlages mitnahm
— natürlich den schon durch den Holz-
schnitt abgeschliffenen Strich — ist nur
begreiflich.
Borenius hatte in seinen Begleit-
Carpaccio, Stephanus vor den Rh
Worten (a. a. 0., p. 7) das richtige Gefühl, daß etwas bei diesem Blatt nicht in Ordnung sei. Die Zuschreibung an
Girolamo Romanino ging in erster Linie wohl auf die alte Aufschrift »Romanino« zurück; durch eine allgemeine Stil-
verwandtschaft mit den erzählenden Kompositionen des Brescianer Meisters konnte Borenius sie bestätigt finden.
»Gleichzeitig besteht aber eine gewisse gotische Rhythmik der Figuren und Draperien, eine gewisse Dürftigkeit der dichten
Federschraffen, die es möglich machen, daß hier die Arbeit eines nordischen Künstlers vorliegt, der unter Einfluß
Romaninos stand. Romaninos Tätigkeit in den Südalpen, zum Beispiel in Trient, könnte leicht auf einen Schweizer oder
süddeutschen Maler Einfluß gehabt haben.«
Das Gefühl war wohl richtig, aber da ein Glied in der Kette der Erkenntnis fehlte, wurden die Folgerungen falsch. So
ist es immer noch die Überbewertung italienischer Kunst, die unterbewußt bei der Beurteilung mitspielt, so daß sogar Dürers
persönlichste Tat, die ihn zu einem wesentlichen Faktor in der Geschichte der internationalen Kunst machte, übersehen wurde.
;ctmitt I
ichn*"
isstelMS
Berlin
1929.
Carpaccio, Studie. Zeichnung. Uffizien.
Ausschnitt aus Dürers Holzschnitt B. 9.
— 47
menge, in der jedes Glied sein bißchen
Einzelfall in der beherrschenden Gesamt-
heit verloren hat; eine Zuschauermenge,
die er Strich um Strich aus Dürers Holz-
schnitt B. 81 herauskopiert. Hier sind es
die Begleiter in »Mariae Tempelgang«;
der überbetonte Anschlag der heiligen
Anna mußte natürlich wegbleiben, aber
Josef, der als Rückenfigur sich ohnedies
unterordnete, konnte unverändert auf-
genommen werden. Weil aber dem
Zeichner die isokephale Anordnung der
Vorlage nicht behagte, füllte er sie nach
oben noch mit zwei leicht grotesken
Köpfen auf. die er — diesmal ein wenig
freier — aus Dürers älterem Holzschnitt
B. 9 bezog. Daß ein in Dürers »Ding«
so eingesehenes Auge dann auch noch
den Strich des Baumschlages mitnahm
— natürlich den schon durch den Holz-
schnitt abgeschliffenen Strich — ist nur
begreiflich.
Borenius hatte in seinen Begleit-
Carpaccio, Stephanus vor den Rh
Worten (a. a. 0., p. 7) das richtige Gefühl, daß etwas bei diesem Blatt nicht in Ordnung sei. Die Zuschreibung an
Girolamo Romanino ging in erster Linie wohl auf die alte Aufschrift »Romanino« zurück; durch eine allgemeine Stil-
verwandtschaft mit den erzählenden Kompositionen des Brescianer Meisters konnte Borenius sie bestätigt finden.
»Gleichzeitig besteht aber eine gewisse gotische Rhythmik der Figuren und Draperien, eine gewisse Dürftigkeit der dichten
Federschraffen, die es möglich machen, daß hier die Arbeit eines nordischen Künstlers vorliegt, der unter Einfluß
Romaninos stand. Romaninos Tätigkeit in den Südalpen, zum Beispiel in Trient, könnte leicht auf einen Schweizer oder
süddeutschen Maler Einfluß gehabt haben.«
Das Gefühl war wohl richtig, aber da ein Glied in der Kette der Erkenntnis fehlte, wurden die Folgerungen falsch. So
ist es immer noch die Überbewertung italienischer Kunst, die unterbewußt bei der Beurteilung mitspielt, so daß sogar Dürers
persönlichste Tat, die ihn zu einem wesentlichen Faktor in der Geschichte der internationalen Kunst machte, übersehen wurde.
;ctmitt I
ichn*"
isstelMS
Berlin
1929.
Carpaccio, Studie. Zeichnung. Uffizien.
Ausschnitt aus Dürers Holzschnitt B. 9.
— 47