Abb. 1. P. P. Rubens, Die Heiligen der Kirche. Rotterdam, Museum Boyma
würde es sich heute dem Blick darbieten! Die unfreiwillige Verzögerung,
die auch dieses schon vor dem Kriege geplante Werk erfahren hat, wurde
ihm in anderer Hinsicht zum Gewinn. Sorgfältiger konnte alles gewogen,
reifer überlegt und durchdacht werden. Die Folge ist ein Gesamtbild von
einzigartiger Geschlossenheit und Abrundung, wie man es bei keiner
anderen Veröffentlichung eines großen Zeichneroeuvres erhalt. Die Ver-
fasser haben die Aufgabe, die sie sich stellten, in vorbildlicher Weise
gelöst. Um eine klare Vorstellung von Rubens' Zcichenkunst zu schaffen,
wurde auf die Aufnahme alles Zweifelhaften oder Unwesentlichen ver-
zichtet. Auch von unbezweifelten Blättern, wie den Antikennachzeich-
nungen, wurde nur eineAuswahl aufgenommen. Noch im Fluß befindliche
Fragen, wie die der Überzeichnungen, wurden ausgeschaltet. Gerade darin
divergieren die Meinungen notwendigerweise stark. So hat A. F. Pophan]
(Old master drawings, I, 4) ein Blatt des British Museum als ein von
Rubens ergänztes Werk Orleys angesprochen, während A. M. Hind
(Catalogue II, S. 16) darin eine Nachzeichnung Rubens' nach einem alten
Werk erblickt (eine Ansicht, der sich übrigens auch der Ref. anschließt).
Ein Analogon zu diesem Fall bietet ein Kulmbachblatt der Sammlung
Pierpont Morgan (Publikation III, 135). Das Bild würde durch solch
schwankende Erscheinungen nur verunklürt, und so kann man den Ver-
fassern nur beistimmen, wenn sie auf weniger Sicheres verzichten, »selbst
auf die Gefahr hin, daß die erstrebte Vollständigkeit darunter leiden
könnte«. Gerade die »Vollständigkeit« ist ja ein sehr relativer Begriff. Auf
emsig bearbeiteten Gebieten tritt ständig neues Material zutage. So hat
kürzlich IC. T. Parker (Old master drawings, 192S, Nr. Ü) wichtiges Rubens-
material aus einer englischen Privatsammlung veröffentlicht. Weit
bedeutsamer ist es, daß einmal der feste Kern erfaßt und eine trag-
fähige Vorstellung, auf der die Kommenden weiterbauen können,
geschaffen wird. Gerade zu einem Zeitpunkt, wo durch Revindizierung
bisher verkannter Arbeiten das Wissen um die Ausdrucksmöglich-
keiten eines Künstlers sich zu erweitern beginnt, ist die Bildung
einer festen, aber organisch lebendigen Grundvorstellung höchste
Notwendigkeit. Lugt und Rosenberg haben in den letzten Jahren in
höchst glücklicher Weise den Bestand an Federskizzen erweitert.
Eine bisher verkannte zeichnerische Ausdrucksweise verleitet die
Entdeckerfreude leicht dazu, in technisch verwandten Blättern
gleichfalls die Meisterhand zu erblicken, wenn auch die Qualität
die Zuweisung nicht rechtfertigt. Gerade dann, bei der Grenzen-
enveiterung, ist es wichtig, Klarheit des Blicks für Qualität zu
wahren. So haben die Verfasser auch die große federgezeichnete
Eberjagd der Albertina nicht aufgenommen. Daß der Kreis der
echten Werke nach Maßgabe erweitert werden kann und muß, ist
den Forschern selbst bewußt. Hoffen wir. daß dies stets mit gleichem
Takt und Verantwortlichkeitsgefühl geschieht, wie sie dieses Buch
offenbart. Es ist ein hoher Gradmesser für alle künftige Rubens-
zeichnungenforschung und wohl geeignet, einem Verschwimmen und
l 'nklarwerden der einmal gewonnenen Vorstellung entgegenzuwirken.
Die Zahl der Rooses noch unbekannten echten Blätter, die
vielfach in dem Bande auch zum erstenmal veröffentlicht werden,
ist eine große. Der begleitende Text gibt in knappen, prägnanten
Sätzen alles Wesentliche an Geschichte und Kritik, darüber hinaus
aber auch eine künstlerisch lebendige Darstellung des großen
Gegenstandes. Aus jeder Zeile spricht das Erfülltsein von der Macht
und erhabenen Natürlichkeit dieser Kunst. Ein Vorzug, der bei einer
geschichtlichen Arbeit eine Selbstverständlichkeit sein sollte, aber
nicht so häufig anzutreffen ist, als daß er nicht besonders betont
zu werden verdiente. Überaus eindrucksvoll ist die Reihe der in
Italien entstandenen Blätter, mit denen der Band beginnt: mächtige
Transpositionen der Antike und der Hauptmeister des Cinquecento
ins Zeichnerische, vor allem Michelangelos. Seltsam weicht von
dem dröhnenden Pathos dieser Blätter die schwebend in schwarzer
und roter Kreide gezeichnete und weiß gehöhte Halbfigur einer
Maria (5) ab, in der die Verfasser, wohl auf Grund einer gewissen
Verwandtschaft mit der Madonna del Sacco, eine Nachzeichnung
nach Andrea del Sarto vermuten. Die Erscheinung ist so lebendig
s. und unmittelbar, daß es sich eher um eine Modellstudie handeln
dürfte, wie auch der Stil dem der duftigen Naturstudien vom Ende
des zweiten Jahrzehnts (107—114, 127) innerlich näherzustehen scheint
als der gedrungenen Kraft der italienischen. Dem Stilkritiker erwachsen
schwere Datierungsprobleme. In die ersten Jahre nach der Rückkehr in die
Heimat fallen sorgfältig durchgeführte Federzeichnungen als Vorlagen für
Kupferstiche der Plantinschen Offizin. Es scheint sich da etwas vom
heimischen Erbe, von der Tradition der Vorgänger Rubens' auf diesem
Gebiete, wie Marten de Vos, zu Worte zu melden. Sähe man die Blätter
mit den Patriarchen und David (40, 41) ohne die Beischriften, so würde
man sie wahrscheinlich zu den frühesten für Plantin geschaffenen Arbeiten
zählen. Doch die Beischriften sind italienisch, und der David ist ausdrücklich
als Bildvorzeichnung erklärt. Das Urkundliche rückt demnach die Blätter
entschieden in die italienische Zeit. Manche seiner Gedanken für den
Kupferstich führte Rubens auch farbig durch. So das Allerheiligenblatt,
das Breviarium Romanum (70) in der wundervollen Skizze des Museum
Boymans in Rotterdam (Abb. 1), die die Linie Tizian—Greco fortsetzt
Andere Datierungsprobleme erwachsen dem Forscher aus dem Umstände,
daß Rubens manche Gestalten in verschiedenen Kompositionen ver-
wertete. Den Oxforder Kreuzaufrichter (45) verwandte Rubens in der frühen
Kreuzigung in Grasse und in dem großen Antwerpener Triptychon. Die
Verfasserhalten es für möglich, daß dieses gewiß nicht vor 1609 10 ent-
standene Blatt »eine zwar genaue, aber künstlerisch freiere Replik« nach
einer Studie für das Bild in Grasse ist. Das Wahrscheinlichere ist, daß
Rubens, als er das Triptychon vorbereitete, ein Modell in der gleichen
Stellung posieren ließ, denn in dem Blatt pulsiert unmittelbar geschautes
Leben. Ein analoger Fall dürfte der liegende Akt 66 sein. Michelangelos
Prometheusgedanken verwandte Rubens bereits um 1610 11 für den
— 82 —
würde es sich heute dem Blick darbieten! Die unfreiwillige Verzögerung,
die auch dieses schon vor dem Kriege geplante Werk erfahren hat, wurde
ihm in anderer Hinsicht zum Gewinn. Sorgfältiger konnte alles gewogen,
reifer überlegt und durchdacht werden. Die Folge ist ein Gesamtbild von
einzigartiger Geschlossenheit und Abrundung, wie man es bei keiner
anderen Veröffentlichung eines großen Zeichneroeuvres erhalt. Die Ver-
fasser haben die Aufgabe, die sie sich stellten, in vorbildlicher Weise
gelöst. Um eine klare Vorstellung von Rubens' Zcichenkunst zu schaffen,
wurde auf die Aufnahme alles Zweifelhaften oder Unwesentlichen ver-
zichtet. Auch von unbezweifelten Blättern, wie den Antikennachzeich-
nungen, wurde nur eineAuswahl aufgenommen. Noch im Fluß befindliche
Fragen, wie die der Überzeichnungen, wurden ausgeschaltet. Gerade darin
divergieren die Meinungen notwendigerweise stark. So hat A. F. Pophan]
(Old master drawings, I, 4) ein Blatt des British Museum als ein von
Rubens ergänztes Werk Orleys angesprochen, während A. M. Hind
(Catalogue II, S. 16) darin eine Nachzeichnung Rubens' nach einem alten
Werk erblickt (eine Ansicht, der sich übrigens auch der Ref. anschließt).
Ein Analogon zu diesem Fall bietet ein Kulmbachblatt der Sammlung
Pierpont Morgan (Publikation III, 135). Das Bild würde durch solch
schwankende Erscheinungen nur verunklürt, und so kann man den Ver-
fassern nur beistimmen, wenn sie auf weniger Sicheres verzichten, »selbst
auf die Gefahr hin, daß die erstrebte Vollständigkeit darunter leiden
könnte«. Gerade die »Vollständigkeit« ist ja ein sehr relativer Begriff. Auf
emsig bearbeiteten Gebieten tritt ständig neues Material zutage. So hat
kürzlich IC. T. Parker (Old master drawings, 192S, Nr. Ü) wichtiges Rubens-
material aus einer englischen Privatsammlung veröffentlicht. Weit
bedeutsamer ist es, daß einmal der feste Kern erfaßt und eine trag-
fähige Vorstellung, auf der die Kommenden weiterbauen können,
geschaffen wird. Gerade zu einem Zeitpunkt, wo durch Revindizierung
bisher verkannter Arbeiten das Wissen um die Ausdrucksmöglich-
keiten eines Künstlers sich zu erweitern beginnt, ist die Bildung
einer festen, aber organisch lebendigen Grundvorstellung höchste
Notwendigkeit. Lugt und Rosenberg haben in den letzten Jahren in
höchst glücklicher Weise den Bestand an Federskizzen erweitert.
Eine bisher verkannte zeichnerische Ausdrucksweise verleitet die
Entdeckerfreude leicht dazu, in technisch verwandten Blättern
gleichfalls die Meisterhand zu erblicken, wenn auch die Qualität
die Zuweisung nicht rechtfertigt. Gerade dann, bei der Grenzen-
enveiterung, ist es wichtig, Klarheit des Blicks für Qualität zu
wahren. So haben die Verfasser auch die große federgezeichnete
Eberjagd der Albertina nicht aufgenommen. Daß der Kreis der
echten Werke nach Maßgabe erweitert werden kann und muß, ist
den Forschern selbst bewußt. Hoffen wir. daß dies stets mit gleichem
Takt und Verantwortlichkeitsgefühl geschieht, wie sie dieses Buch
offenbart. Es ist ein hoher Gradmesser für alle künftige Rubens-
zeichnungenforschung und wohl geeignet, einem Verschwimmen und
l 'nklarwerden der einmal gewonnenen Vorstellung entgegenzuwirken.
Die Zahl der Rooses noch unbekannten echten Blätter, die
vielfach in dem Bande auch zum erstenmal veröffentlicht werden,
ist eine große. Der begleitende Text gibt in knappen, prägnanten
Sätzen alles Wesentliche an Geschichte und Kritik, darüber hinaus
aber auch eine künstlerisch lebendige Darstellung des großen
Gegenstandes. Aus jeder Zeile spricht das Erfülltsein von der Macht
und erhabenen Natürlichkeit dieser Kunst. Ein Vorzug, der bei einer
geschichtlichen Arbeit eine Selbstverständlichkeit sein sollte, aber
nicht so häufig anzutreffen ist, als daß er nicht besonders betont
zu werden verdiente. Überaus eindrucksvoll ist die Reihe der in
Italien entstandenen Blätter, mit denen der Band beginnt: mächtige
Transpositionen der Antike und der Hauptmeister des Cinquecento
ins Zeichnerische, vor allem Michelangelos. Seltsam weicht von
dem dröhnenden Pathos dieser Blätter die schwebend in schwarzer
und roter Kreide gezeichnete und weiß gehöhte Halbfigur einer
Maria (5) ab, in der die Verfasser, wohl auf Grund einer gewissen
Verwandtschaft mit der Madonna del Sacco, eine Nachzeichnung
nach Andrea del Sarto vermuten. Die Erscheinung ist so lebendig
s. und unmittelbar, daß es sich eher um eine Modellstudie handeln
dürfte, wie auch der Stil dem der duftigen Naturstudien vom Ende
des zweiten Jahrzehnts (107—114, 127) innerlich näherzustehen scheint
als der gedrungenen Kraft der italienischen. Dem Stilkritiker erwachsen
schwere Datierungsprobleme. In die ersten Jahre nach der Rückkehr in die
Heimat fallen sorgfältig durchgeführte Federzeichnungen als Vorlagen für
Kupferstiche der Plantinschen Offizin. Es scheint sich da etwas vom
heimischen Erbe, von der Tradition der Vorgänger Rubens' auf diesem
Gebiete, wie Marten de Vos, zu Worte zu melden. Sähe man die Blätter
mit den Patriarchen und David (40, 41) ohne die Beischriften, so würde
man sie wahrscheinlich zu den frühesten für Plantin geschaffenen Arbeiten
zählen. Doch die Beischriften sind italienisch, und der David ist ausdrücklich
als Bildvorzeichnung erklärt. Das Urkundliche rückt demnach die Blätter
entschieden in die italienische Zeit. Manche seiner Gedanken für den
Kupferstich führte Rubens auch farbig durch. So das Allerheiligenblatt,
das Breviarium Romanum (70) in der wundervollen Skizze des Museum
Boymans in Rotterdam (Abb. 1), die die Linie Tizian—Greco fortsetzt
Andere Datierungsprobleme erwachsen dem Forscher aus dem Umstände,
daß Rubens manche Gestalten in verschiedenen Kompositionen ver-
wertete. Den Oxforder Kreuzaufrichter (45) verwandte Rubens in der frühen
Kreuzigung in Grasse und in dem großen Antwerpener Triptychon. Die
Verfasserhalten es für möglich, daß dieses gewiß nicht vor 1609 10 ent-
standene Blatt »eine zwar genaue, aber künstlerisch freiere Replik« nach
einer Studie für das Bild in Grasse ist. Das Wahrscheinlichere ist, daß
Rubens, als er das Triptychon vorbereitete, ein Modell in der gleichen
Stellung posieren ließ, denn in dem Blatt pulsiert unmittelbar geschautes
Leben. Ein analoger Fall dürfte der liegende Akt 66 sein. Michelangelos
Prometheusgedanken verwandte Rubens bereits um 1610 11 für den
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