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Minst, Karl Josef [Übers.]
Lorscher Codex: deutsch ; Urkundenbuch der ehemaligen Fürstabtei Lorsch (Band 1): Chronicon. Urkunden Nrn. 1 - 166, mit Vermerken, welche die Geschichte des Klosters von 764 - 1175 und mit Nachträgen bis 1181 berichten — Lorsch, 1966

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https://doi.org/10.11588/diglit.20231#0082
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so daß sie das große Wagnis einer Zusammenkunft in der Öffentlichkeit vermieden. Aber:
„Die böse Liebe siegt über alle Widerstände" (frei nach Virgil, Georgica I, 145). Schließ-
lich erglühte der treffliche Mann unheilbar in seiner Liebe. Er durfte es aber nicht wagen,
einen Unterhändler zu schicken, um wenigstens auf diese Weise mit der Jungfrau zu
sprechen, und so raffte er sich denn ganz plötzlich zu einer kühnen Tat auf. Nächtlicher-
weile schlich er sich heimlich zur Kemenate des Mädchens. Leise klopfte er an und erhielt
die Erlaubnis, einzutreten. Er gab sich den Anschein, als hätte er der Prinzessin im könig-
lichen Auftrag eine geheime Botschaft zu überbringen, blieb daher allein mit ihr, und es
folgten nun tatsächlich geheime Unterredungen, verbunden mit Umarmungen und höch-
stem Liebesglück. Unversehens nahte das Morgengrauen und Einhard wollte sich durch
die Stille der Nacht, die ihm auch das Kommen ermöglicht hatte, von dannen heben. Zu
seinem Entsetzen mußte er aber die Feststellung machen, daß über Nacht beträchtlich
Schnee gefallen war. Er fürchtete sich hinauszugehen, da männliche Fußstapfen im Schnee
zu Verrätern geworden wären. Beide aber zwang ihr schiechtes Gewissen, voll Angst und
Furcht drinnen zu bleiben. Von großem Kummer bewegt, überlegten sie, was nun zu tun
wäre. Die schöne junge Frau, durch ihre Liebe kühn gemacht, wußte endlich Rat. Sie hob
ihren Einhard auf ihre starken Schultern und trug ihn, noch ehe es richtig Tag wurde, über
den Hof zu seiner Wohnung. Dort setzte sie ihn ab und schritt vorsichtig in ihren eigenen
Fußstapfen wieder zurück. Wir glauben an eine göttliche Fügung, daß ausgerechnet jene
Nacht der Kaiser schlaflos verbracht hatte. Beim ersten Frührot erhob er sich und sah, von
ferne den Hof überblickend, seine Tochter unter besagter Last schwankenden Ganges
mühsam dahinschreiten, sie am erwähnten Ort abladen und rasch zurückgehen. Nach reif-
licher Überlegung alles dessen, was er geschaut und durchschaut hatte, verblieb dem
Kaiser ein Gefühl, gemischt von Bewunderung und Schmerz. Er war überzeugt, daß das
alles nicht ganz ohne göttliche Fügung geschehen sei, beherrschte sich daher und behielt
das Gesehene einstweilen für sich. Nun war sich Einhard allerdings im klaren darüber,
daß diese mißliche Angelegenheit seinem Herrn und König auf keine Weise lange ver-
borgen bleiben könne. In seiner Angst und Not erbat er eine Audienz beim Kaiser, näherte
sich ihm und bat ihn kniefällig um seine Entlassung. Er verwies auf seine vielen und
großen Dienstleistungen und meinte, daß diese gar nicht nach Gebühr bezahlt werden
könnten. Der König hörte zu, ließ Folgen und Ausgang der Angelegenheit zunächst offen,
schwieg lange und versicherte endlich, auf Einhards Forderung baldmöglichst eine Ant-
wort zu erteilen. Er bestimmte einen Tag und berief auf denselben seine Räte, die Großen
des Reiches und seine Vertrauten. Vor dieser erlauchten Versammlung von Würdenträgern
gab nun der König die Erklärung ab, daß er äußerst bestürzt darüber sei, wie die kaiser-
liche Majestät durch eine so unwürdige Vereinigung seiner Tochter mit seinem Schreiber
beleidigt und mißachtet werde. Seinen Zuhörern, die über eine solche Schande und eine
derartig aufsehenerregende Seltsamkeit erschüttert waren, schien das Vorkommnis zu-
nächst kaum glaublich. Der König schilderte es daher in allen Einzelheiten, berichtete über
die Vorgeschichte und vor allem darüber, was er mit seinen eigenen Augen gesehen habe
und forderte von seinen Großen Rat und Urteil. Die Ansichten unter ihnen waren durch-
aus gespalten. Einige waren für ein hartes Urteil gegen den Urheber der Verfehlung,
andere für eine noch nie dagewesene Strafe, wieder andere stimmten für Verbannung,
besonders Ungestüme dachten an die völlige Vernichtung des Schuldigen. Nun waren aber
auch abgeklärte "Weise unter ihnen, die nach reiflicher Überlegung den König innig baten,
 
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